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Die allgegenwärtige Gemütskrankheit aus gesellschaftlicher Perspektive

Depressionen als Quelle der Hoffnung?

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Albrecht Dürers Melencolia I: Ein rätselhaftes Bild und vielleicht eine Allegorie der Depression

Die Verbreitung von Depressionen hat in den Industrienationen besorgniserregende Ausmasse erreicht. Soziologen sprechen von  einer Symptomatik, in der sich die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse äussern. Ein Weg aus der deprimierten Gesellschaft liesse sich möglicherweise gerade in der Depression selbst finden.

Von Lucia Michalcak

Kein Rekord, mit dem sich Griechenland brüsten könnte: sechzig Prozent Jugendarbeitslosigkeit anfangs 2013 in der Altersgruppe der unter 25-Jährigen.  ‚Jugend ohne Hoffnung‘ ist dazu das Schlagwort der Medien. Noch vor Beginn der Wirtschaftskrise 2008 beklagten Politiker und Medien die politische Teilnahmslosigkeit der jungen Generation. Rückblickend zeichnet sich darin eine unbewusste Ahnung ab, dass die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Beteiligung schrumpfen könnten: Wer nicht arbeitet, gestaltet nicht mit. Wir müssen draussen bleiben, der Titel einer Studie der deutschen Friedrich Eberhart Stiftung zur Jugendarbeitslosigkeit von 2012, bringt es auf den Punkt. Und fehlen der Jugend Perspektiven, verliert die Gesellschaft ihr Erneuerungspotenzial und damit die Hoffnung auf Zukunft.

Depressionen auf dem Vormarsch
Ein Mangel an Hoffnung und Handlungsfähigkeit kennzeichnet auch die Depression. Seit ungefähr zehn Jahren beobachtet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Zunahme von psychischen Krankheiten in den Industrienationen. Laut WHO werden Depressionen im Jahr 2030 den ersten Platz unter den Zivilisationskrankheiten belegen. Politische Besorgnis lösen dabei vor allem die Folgen für die Wirtschaft aus: In der Schweiz verursachen Depressionen Kosten von über zehn Milliarden Franken, wie eine Studie der Universität Zürich vom letzten Jahr zeigt. Es liegt daher eine gewisse Ironie darin, dass auch die Arbeitswelt ideale Bedingungen für die Krankheit schafft: Arbeitslosigkeit erhöht das Risiko, eine Depression zu entwickeln –  gleichzeitig kann ein Zuviel an Arbeit zu einem Burnout-Syndrom, das heisst zur Erschöpfungsdepression führen.

Die depressive Gesellschaft
Verschiedentlich haben  Soziologen  nach gesellschaftlichen Ursachen von Depressionen gesucht und gehen (nun) teilweise soweit, diese als Symptom der globalisierten Marktwirtschaft zu verstehen. Manche dieser Überlegungen wurden auch in den Medien diskutiert.  So wurden das Buch des französischen Soziologen Alain Ehrenberg Das erschöpfte Selbst oder Der flexible Mensch des Amerikaners Richard Sennet besprochen.

Die Autoren beschreiben darin gesellschaftliche Entwicklungen, die in ihren Augen das Identitäts- und Sicherheitsgefühl angreifen und Menschen damit empfänglich für Depressionen machen. Konkret heisst das für Sennet und Ehrenberg Folgendes: Der Druck auf die einzelnen, im marktwirtschaftlichen Konkurrenzkampf zu bestehen sei gestiegen. Gleichzeitig herrsche dabei die Vorstellung, jeder könne alles erreichen. In der Folge wird Versagen als eigene Fehlleistung begriffen, obwohl häufig äussere, unbeeinflussbare Umstände Misserfolge herbeiführen. Weiter stelle Individualismus nicht mehr eine Möglichkeit zur Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen in Aussicht wie noch zur Zeit der 68er Generation.

Auch Selbstverwirklichung führe weniger zu Autonomie und Mündigkeit, weil sie zu einer gesellschaftlichen Leistungserwartung geworden sei und dadurch die Menschen sich selbst entfremde. Ausserdem sind Traditionen und Werte, die Orientierung bieten könnten, in der entfesselten Konsumwelt zur Mangelware geworden.

Unabhängig von Sennet und Ehrenberg zeigt ein Blick auf den öffentlichen Diskurs, wie sehr er von wirtschaftlichem Leistungsdenken beherrscht wird. Dadurch stellt sich bei vielen Menschen ein blockierendes Gefühl der Überforderung ein. Zudem scheint sich seit der Überwindung der sozialistischen Diktaturen in Osteuropa das marktwirtschaftliche System als einzigen funktionierendes zu behaupten. Alternativen sind deshalb nur noch schwer vorstellbar. Politische Visionen oder Utopien haben es schwer, wirkliche gesellschaftliche Innovation findet nicht statt. Es ist nachvollziehbar, wenn Menschen auf solche verunsichernden Lebensbedingungen depressiv reagieren.

Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit
Wenigstens haben Depressionen, nicht zuletzt dank des pharmakologischen und psychotherapeutischen Kampfes, der gegen sie geführt wird, ihr Stigma als Charakterschwäche grösstenteils verloren. Sie gelten als Krankheit, als Stoffwechselstörung des Gehirns. Gleichzeitig haben einige Psychopharmaka den bedenkenswerten Status von Lifestyle-Medikamenten erlangt – erinnern wir uns an die „Glückspille“ Prozac® aus den USA. Dennoch beginnt in Fachkreisen die Euphorie über die Wirksamkeit von Antidepressiva, nicht zuletzt von der Pharmaindustrie immer wieder angefacht, zu schwinden.

Auf Knopfdruck lässt sich das Problem wohl nicht aus der Welt schaffen. Da bieten die Analysen Ehrenbergs und Sennets, obschon nicht unumstritten, Ansätze, die Zahl von Depressionen in der Gesellschaft eher über eine Veränderung unserer Lebenskultur zu verringern.
Die Forderungen jugendlicher Europäer in Spanien oder Griechenland während der Proteste gegen ihre wirtschaftliche Ausgrenzung sind hier wegweisend. Aber neben der Sorge um den Euro finden sie wenig Beachtung bei den Regierungen. Kaum überraschend ist deshalb inzwischen auch die  Zunahme von Depressionen bei Jugendlichen zu verzeichnen, wie die NZZ kürzlich berichtete.

Es könnte helfen, die Erkrankung eben nicht ausschliesslich als Krankheit, sondern auch als ein kulturelles und soziales Phänomen zu sehen, wie die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Ann Cvetkovich vorschlägt. Depressionen wären damit nicht einfach ein Übel, das einen befällt, oder eine unwillkürliche Reaktion auf Lebensbedingungen. Sie könnten auch als eine direkte emotionale Auseinandersetzung mit herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen verstanden werden, vielleicht sogar als eine Form von emotionaler Kritik. Aus diesem Blickwinkel wären Depressionen eine Gelegenheit um zu lernen, um neue Sichtweisen zu entwickeln und um die einzelnen Menschen sowie die Gesellschaft besser zu verstehen. Und daraus könnten schlussendlich neue Handlungsmöglichkeiten und Hoffnung auf politische Veränderung erwachsen.

Links

«Soziale Pille» gegen den Trübsinn (Artikel in der NZZ, 12. August 2013)

Depressionen kosten die Schweiz über zehn Milliarden Franken (Medienmitteilung der Universität Zürich)

Wir müssen draussen bleiben -Aktuelle Länderstudien der Friedrich-Ebert-Stiftung analysieren Jugendarbeitslosigkeit in Europa

 

Literatur

Richard Sennet, Der flexible Mensch: die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin Verlag, Berlin, 1998.

Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Suhrkamp, Frankfurt/M, 2008

Ann Cvetkovich, Depression: a public feeling, Duke University Press, Durham NC, 2012.

 

Die Depression aus medizinischer Sicht (von Martin Geiser)
Pro Jahr erkranken hierzulande etwa 400’000 Menschen an einer schweren Form der Depression.  Es handelt sich dabei nicht bloss um eine kleine Verstimmung oder eine melancholische Gemütslage. Die Krankheit ist ernsthaft: Fehlende Lebensfreude und Motivation, kein Selbstvertrauen, Hoffnungslosigkeit und starke Schuldgefühle machen das Leben zur Hölle. Suizidgedanken sind zudem nicht selten und werden leider all zu oft auch in die Tat umgesetzt. Und mit diesen Symptomen geht oft auch der Rückzug aus dem sozialen Leben einher. Doch das Verständnis für die Betroffenen ist oft gering. Diese sollten sich doch einfach etwas zusammenreissen, ist eine weitverbreitete Meinung in der Bevölkerung.
Die Ursachen der Depression sind vielfältig und von der Medizin noch nicht vollständig verstanden. Fest steht, dass im Gehirn wichtige Botenstoffe in zu geringer Konzentration vorhanden sind. Zudem scheint Depression zu einem Teil vererbbar zu sein. Aber auch andere Krankheiten wie chronische Schmerzen, gewisse Hormonstörungen, Infektionen oder Demenz können für eine Depression mitverantwortlich sein. Zudem erkrankt häufiger an einer Depression, wer bestimmte Medikamente einnimmt oder zu häufig Alkohol konsumiert.
Als Behandlung der Wahl gelten Psychotherapien auf der einen und Medikamente, in erster Linie Antidepressiva, auf der andern Seite oder aber eine Kombination beider Ansätze. Der Erfolg einer Therapie ist aber nicht garantiert. Vielfach liegt dies auch daran, dass Antidepressiva nicht konsequent eingenommen werden. Dies zum Beispiel aufgrund von unerwünschten Wirkungen zu Beginn der Therapie oder aus Angst vor Persönlichkeitsveränderungen. So setzen viele Patienten ihre Medikamente nach einigen Wochen bereits ab. Oder sie hören damit auf, wenn es ihnen besser geht. Dann ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass die Depression zurückkehrt.

Quellen

Gesundheit in der Schweiz – Nationaler Gesundheitsbericht der Schweiz 2008, Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan) 2009.
Depressionen in der Schweizer Bevölkerung, Obsan-Bericht 56, Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan), 2013.