Urs Widmer, René Ander-Huber, Helmut Vogel „Widmer!“ | Sogar-Theater, Zürich

Geschichten, Grappa und Gesang

Die beiden Kellner René Ander-Huber & Helmut Vogel | Foto|Copyright: Bernhard Fuchs
Die beiden Kellner René Ander-Huber & Helmut Vogel | Foto|Copyright: Bernhard Fuchs

Mit ausgesuchten Erzählungen, Schellack-Schlagern und pointierten Kellner-Szenen ehrt das Sogar-Theater den kürzlich verstorbenen Urs Widmer. Ein gelungener Abend – mit einem fehlenden Gast.

Von Tamara Schuler.

Der gesamte verfügbare Raum im Sogar-Theater – das sich selbst zurecht als „Kleintheater“ bezeichnet und in etwa die Grösse eines grosszügigen Wohnzimmers hat – wurde vollständig ausgenutzt: Die Zuschauer sitzen in Grüppchen an runden Tischen, als Bühne fungiert die Theaterbar sowie eine freie Ecke, in der ein braunes Klavier steht. Auf eine Wand werden ausserdem alte Schwarz-Weiss-Fotografien des Café Odeon projiziert. Das vornehmlich ältere Publikum freut sich darüber: “Lueg emal, s’Odeon wies früener gsi isch!“. Ein eher unmöglicher Kronleuchter zieht ausserdem einige Aufmerksamkeit auf sich. Die Stimmung ist locker und es entsteht tatsächlich die Atmosphäre einer gemütlichen Bar: Man trinkt Rotwein, wartet auf den Beginn des Stückes und plaudert mit den Tischnachbarn. “Wetsch au es Ingwerzältli?“ – und dann geht es los, Licht aus, Auftritt der beiden Kellner.

Die Fliege verleiht uns Flügel
Es folgen von Widmer verfasste Kellnerszenen, die in gewohnt tragikomischer Weise die Freuden und Leiden dieser Berufsgattung erfassen. Die Kellner (von der ersten Minute an stilsicher verkörpert von Helmut Vogel und René Ander-Huber) erzählen von vergangenen Zeiten, als das Kellnerdasein noch glorreicher war: “In Paris, als Baudelaire noch am Leben war“ und Kellner noch in “Pyramiden, knapp kellnergross“ bestattet wurden. Der einzige Gast – das Publikum gehört selbstverständlich nicht zum Service der beiden Kellner und wird konsequenterweise ignoriert – ist gleichzeitig der Erzähler (Klaus Henner Russius), der sich mit den Schauspielern abwechselt und Ausschnitte aus Urs Widmers Erzählungen vorliest.

Risotto und Grappa
Es ist eine wirklich gelungene Hommage an Urs Widmer: Wer seine Bücher gelesen hat, erkennt in den Kellnerszenen und vorgetragenen Texten sofort seinen unvergleichlichen Stil: Fantastische Satzgebilde, mal zärtlich-melancholisch, mal herzzerreissend oder zum Brüllen komisch. Widmer versteht es, dem Zuhörer mit wenigen Worten weitläufige Welten zu eröffnen. Von der gesprächigen, 104-jährigen Alma, die man besser nicht nach Risotto und Grappa fragt, über waghalsige Flüge im Doppeldecker zur nordischen Schönheit Bodil bis hin zu den Buben Willi und Walti Tell, die das Apfelschiessen üben – Urs Widmers Erzählungen entführen das Publikum in fremdartige Szenerien. Und das ist auch der Kern von Widmers Schreibkunst: Den Leser in ungeahnte und doch seltsam vertraute Gefilde der Fantasie zu locken, um ihn die wunderbaren, zuweilen surrealen Geschichten dort selber miterleben zu lassen.

Irgendwo auf der Welt
Zur Auflockerung zwischen all den Worten singen die Kellner einige Schlager aus Schellack-Zeiten, wie Widmer sie mochte: Klassiker wie “Schöner Gigolo“, “Die Juliska aus Budapest“ oder “Ausgerechnet Bananen“, das ältere Publikum summt freudig mit. Damit gewinnt das Stück an Schwung und das angenehm “r“ von Erzähler Klaus Henner Russius tut sein Übriges. Man wünscht sich natürlich Urs Widmer auf dessen Platz – inbrünstig. Dass der Autor von so fabelhaften Werken wie “Im Kongo“, “Der Geliebte der Mutter“ und “Liebesnacht“ tatsächlich nie mehr schreiben wird, ist kaum zu glauben. Ein Trost ist die kürzlich erschienene Autobiografie „Reise an den Rand des Universums“, die den Leser an den ersten drei Jahrzehnten von Widmers Leben teilhaben lässt. Auch das Stück des Sogar-Theaters lässt den Geist des Schriftstellers noch einmal aufleben und regt dazu an, dessen zahlreiche Werke zu lesen – ein Vergnügen, das sich jedes Mal aufs Neue lohnt.

Dauer: 65 Minuten

Besetzung
Helmut Vogel, René Ander-Huber, Klaus Henner Russius

Konzept
Urs Widmer, Helmut Vogel, René Ander-Huber, Peter Brunner, Claire Plassard, Fabienne Greuter

Im Netz
www.sogar.ch

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert