Our Reality Is Better [Teil 1]

Our Reality Is Better [Teil 1]

Zur Entwicklung des „Videogame-Realismus“ in Comic und Literatur

pilgrim-600Unlängst brachte die „SonntagsZeitung“ ein Interview mit dem ehemaligen niedersächsischen Justizminister Christian Pfeiffer, der Erschreckendes zu berichten wusste: Eine ganze Generation junger Männern sei an die Videospiele verloren gegangen. Wir geben Entwarnung: Einige von ihnen haben ihr Verdun 2.0 überlebt und sind von den Battlefields dieser Erde zurückgekehrt, um von ihren Erfahrungen zu berichten.

Von Christof Zurschmitten.

Pfeiffers Generalangriff auf das Medium wirkt wie ein Ausläufer der so genannten „Killerspiel-Debatte“, die zuverlässig jedem Amoklauf jugendlicher Täter auf dem Fuss folgt. Aus den Verdammungen spricht dabei regelmässig zweierlei: Der verständlichen Verunsicherung angesichts der tragischen Ereignisse steht die vollständige Unkenntnis des kritisierten Mediums entgegen, das aus prophylaktischen Gründen mittels Moralkeule rechtskräftig gleich in seiner Gänze totgeschlagen werden soll. Die von Pfeiffer abgeschriebene Generation betrachtet derweil aus der Ferne den Prozess, mit einigem Befremden.

David Foster Wallace, selbst ein äusserst wacher Beobachter der medialen Verschiebungen, beschrieb in seinem Aufsatz „E unibus pluram: Television and U.S. Fiction“ anfangs der 90er-Jahre den Einfluss des Fernsehens auf die amerikanische Literatur. Die Einführung des TVs markiert für ihn eine unüberschreitbare Grenze. Für jeden Autoren, der danach geboren wurde, sei das Fernsehen etwas „to be lived with instead of just looked at”: Jenseits dieser Grenze gibt es kein Leben ante TV, seine Bilder und Symbole, seine Strategien und Mittel seien den Nachgeborenen derart vertraut, dass sie wie selbstverständlich darauf zurückgriffen für ihre eigenen Erzählungen. Das Bildschirm-Leben sei ihnen nicht zur Realität geworden, aber doch unbestritten zum Teil ihrer Realität. Ungeachtet aller sozialer, kultureller oder literarischer Umbrüche war es für Wallace nicht zuletzt das Fernsehen, das die postmodernen Werke Thomas Pynchons und Don DeLillos am nachhaltigsten beeinflust hat, Bücher, in denen die TV-Bilder selbst in der Umarmung noch auf kritische Distanz gehalten wurden.

Die Anzeichen häufen sich, dass unlängst eine neue Grenze überschritten wurde. Sie trennt nicht nur eine neue Generation von Autoren und Lesern von ihren Vätern und Müttern, sondern markiert auch eine Schwelle für die Debatten um das Computerspiel: Jenseits davon dürften sie ihren hysterisierten Tonfall merklich zügeln müssen. Besiedelt wurde die Grenze bereits jetzt von einer über die letzten Jahren erschienenen Reihe von Werken, die sich auf just jene selbstbewusst/selbstverständliche Art mit dem Medium des Computerspiels auseinandersetzen, wie es ihre Vorgänger im Geiste mit dem Fernsehen taten: Ein Phänomen, das sich in der Literatur ebenso wie im Comic beobachten lässt (um noch nicht einmal zu sprechen vom Film, der sich in verschiedener Form – reinen Adaptionen, ausgiebigen visuellen Anleihen à la „Matrix“ oder genuinen Metabetrachtungen wie Cronenbergs „eXistenZ“ – bereits früh mit dem medialen Verwandten auseinandergesetzt hat).

Brian Lee O’Malleys „Scott Pilgrim“: Die Welt als Game und Vorstellung
Die bislang konsequenteste Verarbeitungen einer Gamer-Psyche hat der Kanadier Brian Lee O’Malley mit seiner auf sechs Büchern angelegten Comic-Saga „Scott Pilgrim“ vorgelegt, deren vierter Band vor Kurzem erschienen ist.
Auf den ersten Blick scheint O’Malleys Comic bloss eine jener generischen twentysomething-Geschichten zu sein, die am Laufband produziert wurden und werden, seit die Generation X Orientierungslosigkeit und Apathie zum Merkmal einer Generation ausgerufen hat: Scott Pilgrim, 23-jährig, teilt sich eine Einzimmer-Wohnung in einer kanadischen Stadt mit seinem „coolen schwulen Mitbewohner“ und hat seine Prioritäten im Leben sehr exakt abgesteckt: Bandproben, Videospiele, unspezfisches Rumhängen – alles unter Vermeidung all dessen, was Anstrengung oder gar Verantwortung mit sich bringen könnte. Sein beschauliches Leben gerät allerdings gehörig aus den Fugen, als er die mysteriöse Ramona Flowers (ein „american ninja delivery girl“) kennen und lieben  lernt. Der Weg zu ihrem Herzen ist nämlich mit sechs oder sieben bösen Ex-Freunden gesäumt, die Scott – schön einer am Endes jedes Bandes – zum Duell fordern. Und sich nach ihrem Ableben in Münzhaufen auflösen. Oder Mithrilskateboards. Oder ein Rudel possierlicher Tierchen.

Um diese innere Logik des Pilgrimschen Kosmos zu fassen, wurde eigens ein neuer Begriff kreiert: „Videogame-Realismus“, nicht nur in seiner vordergründig paradoxen Natur ein Verwandter des „Magischen Realismus“. Scott Pilgrims Welt ist handfest realistisch mit ihren Schauplätzen, die man so oder ähnlich im urbanen Kanada tatsächlich antreffen wird; sie ist es nicht minder im Hinblick auf die nur allzu wohl bekannten Sorgen und Nöte des spätadoleszenten Slackersdaseins: Eine Sackgassen-Karrerie, die nicht recht vom Fleck kommen will; der Vermieter, der einem im Nacken sitzt; verflossene Liebschaften, die immer im falschen Moment wieder auftauchen.

O’Malleys Taktik besteht darin, keinen wesentlichen Unterschied zu machen zwischen dieser Ebene der Realität und der Sphäre der Populärkultur, die im Comic nicht weniger real und materiell erscheint. Resultat ist eine Hyperrealität, zu der das Computerspiel nicht den einzigen, aber doch einen wesentlichen Teil beisteuert: Namen und Charaktere etwa sind von Nintendo&Co. übernommen, die innere Logik der Erzählung sowieso, wie sie stetig zu immer schwierigeren Herausforderungen mit Bossfights fortschreitet. Doch das ist nur der Anfang: Games, (Alternative-)Rock, Actionfilme und – gerade auf der visuellen Ebene wichtig – japanische Manga und Anime werden in „Scott Pilgrim“ zu einem einzigen Netz von Querbezügen, Anspielungen und versteckten Seitenhieben verwoben, ohne dass „Scott Pilgrim“ zum einfachen Kompendium der Populärkultur ca. anno 2000 verkommen würde. Was seine Qualität letztlich ausmacht ist der Umstand, dass die Anspielungen weder als billige Einzelpointen angelegt sind (obwohl das Buch, sehr, sehr witzig ist) noch als Puzzles, deren Lösung mit einem Distinktionsgewinn für den Durchschnittshipster belohnt wird.

power of love scott pilgrim flaming sword katanaDie Kämpfe mit Ramonas Ex-Freunden und Scotts „Level-Aufstiege“ sind vielmehr Metaphern und Allegorien für die Ängste am Anfang jeder neuen Beziehung und das Reifen an der Konfrontation mit den inneren Schweinehunden. Auch Scott Pilgrims Interpretation der „power of love“ mag auf den ersten Blick eine visuelle Pointe sein, verrät aber auf den zweiten viel nicht nur über die Befindlichkeit der Figur in diesem Moment, sondern auch über den Weg, den sie bis dort zurücklegen musste.

O’Malleys Saga spricht von Befindlichkeiten, die lokal verortet, aber universal nachempfindbar sind. Und sie tut es in einer Sprache, die global verständlich ist, zumindest für jene Generation, die eine immer stärker globalisierte Popkultur nicht nur teilt, sondern sie zur Linse ihrer Weltwahrnehmung und -interpretation macht.

„Scott Pilgrim“ ist, so gesehen, das Buch, das man dereinst seinen Kindern zeigen wird um ihnen klar zu machen, was ein Leben um die Jahrtausendwende bedeutete. Es ist nicht weniger als das – enorm unterhaltsame, zuweilen ehrlich bewegende, actionbepackte, von Dialogwitz nur so strotzende – Portrait einer ganzen Generation.


Brian Lee O’Malley: “Scott Pilgrim Vol. 1: Scott Pilgrim’s Precious Little Life”
ders.: “Scott Pilgrim Vol. 2: Scott Pilgrim Versus The World“
ders.: “Scott Pilgrim Vol. 3: Scott Pilgrim and The Infinite Sadness“
ders.: “Scott Pilgrim Vol. 4: Scott Pilgrim Gets It Together”
ders.: “Scott Pilgrim Vol. 4: Scott Pilgrim Gets It Together”

Verlag: Oni Press

Eine deutsche Ausgabe des ersten Bands ist unter dem Titel „Scott Pilgrim – Das Leben rockt“ zwar im Panini Verlag erschienen, kann aber durch eine verhunzte Übersetzung nicht empfohlen werden.

Der Aufsatz von David Foster Wallace, „E Unibus Pluram: Television and U.S. Fiction“, erschien in: „Review of Contemporary Fiction“, 13:2 (1993:Summer)

Im Netz
Eine  ersten Eindruck von Scott Pilgrims Kosmos bietet eine im Internet frei zugängliche Kurzgeschichte,  die anlässlich des Free Comicbook Days entstand. Empfehlenswert ist weiterhin Brian Lee O’Malleys Website, auf der er regelmässige Information über den Gedeih des neuesten Bands preisgibt, sich ausgiebig über die Zwänge eines Lebens als Comickünstler beschwört und die durchaus hörenswerte Lofi-Musik seines Nebenprojekts „Kupek“ zum Gratis-Download anbietet. Ein netter Mensch.


Teil 2 der Reihe zum Videogame-Realismus, in dem von D.B. Weiss „Lucky Wander Boy“ die Rede ist, kann hier gefunden werden. Teil 3, in dem von Xaver Bayers „Weiter“ die Rede ist, liest sich hier.

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