Our Reality Is Better [Teil 3]

Our Reality Is Better [Teil 3]

Zur Entwicklung des „Videogame-Realismus'“ in Literatur und Comic

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Zum dritten und letzten Mal berichtet nahaufnahmen.ch von einem Phänomen, das allmählich im Comic, der Literatur und der Musik Fuss zu fassen beginnt: Eine Generation, die mit Computer- und Videospielen aufgewachsen ist, beginnt, ihre Kindheits-Erfahrungen in Erzählungen umzusetzen. In den Fussstapfen ihrer Väter im Geist, die Jahrzehnte zuvor ihre Werke auf den Abfallhalden der TV-Unterhaltung züchteten, verquicken sie die digitalen Welten mit ihrem Leben jenseits des Monitors und kreieren damit eine Erzählhaltung 2.0: Den Videogame-Realismus.

Von Christof Zurschmitten.

Nach Brian Lee O’Malleys Comic-Saga „Scott Pilgrim“ stand letzten Monat der erste Vertreter des literarischen Videogame-Realismus‘ im Fokus der Aufmerksamkeit: Bereits 2003 wurde „Lucky Wander Boy“ veröffentlicht, der Debütroman des jungen amerikanischen Schriftstellers D. B. Weiss. Nonchalant konfrontiert dieser seinen Anti-Helden Adam Pennyman im Post-Collegealter mit den Videospielen seiner Kindheit und beschert ihm damit ein Flashback der besonderen Art: Pennyman versenkt sich in irr-geniale Meditationen über die universale Bedeutung klassischer Games wie „Pac-Man“ oder „Donkey Kong“ und schlittert dabei unaufhaltsam Richtung Obsession davon. Besonders das obskure japanische Arcadegame „Lucky Wander Boy“ entwickelt sich zum Fetisch, der den Retrogamer tiefer und tiefer in eine Welt hineinlockt, in der die Barrikaden zwischen den Realitäten vor und hinter dem Monitor immer durchlässiger werden. Die unaufhaltsame Abwärtsbewegung seines Helden schildert D. B. Weiss mit profunder Kenntnis des Videospieluniversums, aber auch einem Bewusstsein für die amerikanische postmoderne Literatur der letzten dreissig Jahre: Wie einst Don DeLillo und David Foster Wallace kreiert er eine Welt, die sich auf der einen Seite bis zum glimmenden Pflaster der Massenmedieninhalte erstreckt, während sie auf der anderen beim grauen Büroalltag der amerikanischen Gegenwart an die Grenzen stösst. Und über den Abgrund dazwischen spannt sich der Sinn für die Groteske.

„Weiter“ von Xaver Bayer: An die Grenzen stossen
In eine gänzlich andere, man könnte sagen: europäischere Tradition schreibt sich der Österreicher Xaver Bayer mit seinem dritten Roman „Weiter“ ein. Die Welt seines namenlosen Ich-Erzählers ist weniger schillernd und schrill als das überdrehte Westküsten-Amerika Adam Pennymans: In der tiefsten österreichischen Provinz bewegt er sich, durch Orte, die bodenständig floral „Mistelbach“ heissen und von malerischen Bauernhöfen und Wirtshäusern durchsetzt sind. Und dennoch sind die Protagonisten beider Bücher Landsmänner, wenn auch nur virtuell: „Das Anfangsbild in hell- und dunkelblau mit dem blinkenden Cursor ist wie die Flagge meines Kindheitslandes“, sinniert Bayers Held, und im Hissen dieser Fahne – es ist der Startbildschirm des Commodore 64, eine der weitverbreitesten Spielekonsolen der 80er-Jahre – gesellt er sich zu seinem amerikanischen Pendant.

weiterWie dieses hat auch der Erzähler in „Weiter“ einiges gelernt auf seinen Reisen durch die Welten des Computerspiels – vor allem anderen, auf der Hut zu sein und seine Umgebung immer und überall genau zu beobachten: „Die Wipfel der Bäume längs der Straße, die höchsten, die dünnen Äste, haben vibriert und gezittert, als hätten sie plötzlich ein Eigenleben. Dann wieder haben sie sich starr jeder Bewegung verweigert, haben wie feine Haarrisse am blaugrauen Himmel gewirkt. Was für eine Grafik, habe ich gedacht.“ Der Blick des Erzählers ist von einer selten anzutreffenden Schärfe, aber über die herangezoomten Details des ruralen Lebens schiebt sich immer wieder das HUD des Gamers, in dem alles bedeutungsschwanger und bedrohlich wirkt. „Ein Motorradfahrer ist vorbeigekommen, dann ein Radfahrer. Beide habe ich im ersten Moment als mögliche Gegner angesehen oder zumindest als denkbare Störfaktoren, aber sie haben mich keines Blickes gewürdigt.“

Xaver Bayer schlägt mit „Weiter“ einen anderen Weg ein als O’Malley oder Weiss, auch wenn sie sich im Ziel des Videogame-Realismus treffen mögen: Nicht die Welt ist hier eigenen Computerspiel-Gesetzen unterworfen wie in „Scott Pilgrim“ oder bis zur Verrücktheit satirisch überhöht wie in „Lucky Wander Boy“ – der Blick des Protagonisten ist es, der verrückt worden ist, weg von den Wahrnehmungsmustern, die gemeinhin „normal“ genannt werden. Im Gegensatz zu seinen amerikanischen Kollegen ist dem Erzähler in „Weiter“ aber die Fähigkeit zur Selbstreflexion geblieben, und so ist seine Geschichte ein einziges Kreisen um die entscheidende Frage, wie es mit seiner Weltanschauung so weit hat kommen können.

Während die Gedanken an Ort zirkeln, bewegt sich aber wenigstens der Erzähler vorwärts, immer vorangetrieben im enervierenden Perfekt, das, wie sich gegen Schluss zeigen wird, nicht zufällig den Brustton des Geständnisses evoziert. Der Erzähler von „Weiter“ hat eine Aufgabe – er muss zu einem Interview mit einem tschechischen Spieleentwickler -, aber sein Weg dorthin mäandert, schlingert, franst aus an allen Ecken und Enden. Das Vorwärtstaumeln des Erzählers mutet nicht nur dem Leser seltsam ziellos an: „Ich hatte ein Gefühl wie jemand, der seine letzte Chance verspielt weiß und dem von nun an der Weg zurück versperrt und der Weg nach vorne kein Weg, sondern nur eine sich trist ausdehnende Ebene ohne Richtung ist.“

Tatsächlich ist der Protagonist in „Weiter“ von allen Figuren, die im Zentrum der bisherigen Videogame-Realismus-Erzählungen stehen, vermutlich die versehrteste. Für Adam Pennyman werden die digitale und analoge Welt gleichermassen real, eine fatale Entwicklung, über die er buchstäblich an das Computerspiel verlorengeht. Bayers Erzähler aber taucht aus der Versenkung in der Videospielewelt auf mit dem Wissen darum, dass Game- und Lebenswelt gleichermassen irreal sind. „Man kann sagen, ich habe damals begonnen, der Wirklichkeit nicht mehr zu trauen. Oder eigentlich war es anders: Ich habe die Wirklichkeit schlichtweg nicht mehr gespürt.“

Auch der Leser spürt den Verlust dieses Empfindens, und er spürt ihn schmerzhaft. Xaver Bayers Bücher atmen immer eine Tristesse und zugleich eine grimmige Entschlossenheit, die den Blick schärft, um all die kleinen und grossen Risse zu notieren, die durch diese Welt, und – der Blick ist immer auch nach innen gerichtet – die Existenzen in ihr gehen. In ihrer Ausstellung des menschlichen Irrens sind Bayers Bücher so bitter wie unerbittlich – sie machen nicht Halt, bis ihr Suchen nicht mindestens existentialistische Dimensionen erreicht hat. So gesehen überrascht es auch nicht, dass der Protagonist in „Weiter“ Züge geradezu Camusschen Zuschnitts aufweist. Wie einst Meursault – ein Bekenner auch dieser – ist seine Erzählung vor allem anderen eine Schilderung des ständigen Vorrangehens, der unermüdlichen Weiterbewegung, die auch eine Fortbewegung ist – nur, wovon sie fort will, und wohin, das wird dem Erzähler erst sehr spät klar. Dafür begreift er bereits früh, dass er nicht einfach nur zur Freiheit verdammt ist. Vielmehr plagt ihn die doppelte Niederträchtigkeit der Existenz: Dass sie sich frei genug gibt, einem jeden eindeutigen Sinn zu verweigern, um dann doch immer und überall Grenzen zu setzen.

Wie Xaver Bayer diese schizoide Enge mit dem Phänomen des Computerspiels zusammenbringt, ist so schlüssig wie beeindruckend. Auch Bayer ist ein profunder Kenner der Materie, wofür die zahlreichen Nennungen von Computerspielen aber nur den offensichtlichsten Beleg liefern. Was „Weiter“ zu einem gelungenen Buch macht – und zu einem, das nur aus dem inneren Kreis der Computerspieladepten heraus geschrieben werden konnte -, das ist die Intelligenz, mit der Bayer die inneren Mechanismen und Prinzipien der Computerspiele erkennt und diese mit einer existentialistischen Weltsicht zusammenbringt:

Wer jemals ein Point&Click-Adventure gespielt hat, wird etwa den manischen Bedeutungsverdacht kennen, der gegen jeden noch so unscheinbaren Gegenstand prophylaktisch gehegt wird, in der Erwartung, er könnte sich im weiteren Spielverlauf noch als nützlich erweisen. Auch der namenlose Erzähler in „Weiter“ ist ein Sammler willkürlicher Gegenstände, die ihm zu potentiellen Hoffnungsträgern werden, vage Versprechen dafür, dass sich irgendwie, irgendwo noch etwas damit anstellen lässt: Dass Dinge plötzlich zusammenpassen und so etwas wie „Sinn“ ergeben. Die wichtigste Eigenschaft von Computerspielen aber, das eine alles dominierende Prinzip, das die digitalen Welten im Innersten zusammenhält, das ist ihre generelle Beschränktheit. Selbst das komplexeste Computerspiel kann nicht mehr als die Illusion der (spielerischen) Freiheit bieten, und auch wenn die Mittel der Kaschierung dieses Umstands immer raffinierter werden, sind die Grenzen des Programmiercodes die Grenzen der Welt. Bayers Erzähler ist ob dieser Einsicht zum Vertreter jenes von den Spieleentwicklern gefürchteten Gamertypus‘ geworden, der gegen diese Enge angeht, versucht, gegen die Grenzen des Spiels zu rebellieren, es gegen seine Absichten zu spielen. Und dennoch weiss er auch, dass selbst die so erkämpfte Freiheit letztlich nur eine virtuelle ist: „Was muss ich als nächstes tun? Ich bin für einen Augenblick fast beschwipst von dieser Frage gewesen, die in meinem Kopf wirbelte, aber ich war auch schnell genug wieder ernüchtert: Es sind ja ohnedies alles nur noch regulierte Abenteuer, hab ich mir gesagt.“

Xaver Bayer zeichnet mit „Weiter“ das Porträt eines Menschen, für den das Computerspiel zum Medium der Erkenntnis wird, einer Erleuchtung freilich, die auch Schatten über die Welt jenseits des Bildschirms wirft. Die Beschreibung dieser Schatten hat Bayer bereits in seinen letzten Büchern verfolgt, aber durch den Einbezug des Computerspiels versetzt er seinem Projekt die Dosis Aktualität, die  „Weiter“ nicht nur zu einem gelungenen, sondern auch zu einem wichtigen Buch macht.

Xaver Bayer: “Weiter”
156 Seiten
Jung und Jung-Verlag

Im Netz
Teil 1 der Serie zum Videogame-Realismus befasst sich mit Brian Lee O’Malleys „Scott Pilgrim“ und findet sich hier. Teil 2, in dem von D.B. Weiss „Lucky Wander Boy“ die Rede ist, kann hier gefunden werden.

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