„Tekkonkinkreet“ von Michael Arias

Baustellen in Nimmerland

„Tekkonkinkreet“ von Michael Arias

Goldene Zeiten für die Freunde der Animation: Während man sich in den USA im geschmackvollen Aufwärmen bewährter CGI-Filmzutaten übt, kommt aus Japan nach „Paprika“ gleich der nächste hochkarätige Beitrag zur Ehrenrettung der Handzeichnung. „Tekkonkinkreet“ schlägt behände die Brücke zwischen den (Zeichentrick-)Kulturen, was nicht zuletzt der  Regie eines in Japan heimischen Amerikaners zu verdanken ist.

Von Christof Zurschmitten

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Michael Arias hat in Hollywood als Special Effects-Künstler an derart bahnbrechenden Filmen wie „The Abyss“ mitgearbeitet, bevor er aus persönlichen Gründen den Hut nahm und nach Tokio, Japan auswanderte. Das Land der aufgehenden Sonne ist hinlänglich bekannt dafür, Fremde ständig auf ihr Fremdsein zurückzuwerfen, doch Michael Arias wusste das Beste daraus zu machen: Er hielt sich an die Stadt selbst statt ihre Bewohner, machte sich vertraut mit ihren Geräuschen und Rhythmen und dem Tempo, mit dem ständig Neues entsteht und Altes nur noch in versteckten Enklaven überlebt, die von der Zeit und den Bauämtern vergessen scheinen. Arias begann die Metropole für sich zu erschliessen, mental zu kartographieren und portraitieren. Gleichzeitig stiess er auf den Manga „Black and White“ von Matsumoto Taiyo und erkannte darin nicht nur seine eigene Situation wieder, sondern auch ein Sinnbild für das sich unablässig verändernde Tokio. Der gefasste Entschluss, einen Film aus dieser Vorlage zu machen, sollte zwölf lange Jahre seiner Umsetzung harren. Mittlerweile spricht Arias aber fliessend Japanisch, und aus seinen Plänen ist „Tekkonkinkreet“ geworden, den er mit dem japanischen Animationsteam verwirklichen konnte,  das auch hinter den Kurzfilmen der „Animatrix“-Serie steht.

Schwarz und Weiss und irgendwas dazwischen
Eine Metropole ist auch Schauplatz von „Tekkonkinkreet“, oder genauer: Eines ihrer Viertel, Treasure Town genannt, das als Fluss-Insel schon geographisch vom Rest der namenlosen Stadt abgetrennt ist. Doch nicht nur der Fluss macht die Schatzinsel zu einem Ort eigener Prägung, hier herrschen auch ganz besondere Gesetze: Das des Dschungels, wie Neuankömmlingen gerne eingebläut wird, das des Stärkeren, nicht jedoch zwangsläufig die der Physik. Vorläufige inoffizielle Regenten von Treasure Town sind der kampferprobte Waisenjunge Black und sein Schützling und Gefährte, der elfjährige White. Doch die Kräfteverhältnisse sind instabil in Treasure Town, dessen nur zu erahnende Schätze im Zentrum unablässiger Kämpfe verschiedener Parteien stehen: Neben diversen Strassen-Gangs ist da ist der Yakuza-Boss Suzuki, der nach längerer Abwesenheit mit seinem Handlager Kimura und unter Verschluss gehaltenen Plänen auf die Insel im Fluss zurückgekehrt ist. Da ist die Polizei, die versucht, dem sich anbahnenden Chaos Einhalt zu gebieten. Da ist der unheimliche Snake, der von einem windigen Geschäftsmann beauftragt wird, seine (un-)heilige Killertruppe einzusetzen, um alle widerspenstigen Kräfte in Treasure Town aus dem Weg zu räumen und damit den Grund zu bereiten für den Bau eines lukrativen Vergnügungstempels. Und zwischen allen Fronten ist da Black, die widerspenstigste aller Kräfte, der sich mit Leib und Seele gegen alles und jeden sperrt, der aus Treasure Town etwas anderes machen könnte als seinen und Whites Spielplatz. Während die Abriss- und Aufbauarbeiten auf der Insel seinem brutalen Widerstand zum Trotz unaufhaltsam fortschreiten, geht auch mit Black allmählich eine Veränderung vor sich, die ihn seinen Namen verdienen lässt.

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Peter Pan in der Hyperurbanität
Auf den baren Kern reduziert ist „Tekkonkinkreet“ ein altbekanntes Märchen: Das vom Jungen, der sich gegen das Erwachsenwerden als ultimative Veränderung seiner Welt sperrt. Simpel ist der Film deswegen ebenso wenig wie seine nuancierten Hauptcharaktere. Deren Dopplung entspricht eine durchaus ambige Moral: Am Ende (soviel sei verraten) mag auch hier die Läuterung stehen, aber der Weg dahin führt über Gewalt, Tod und Wahnsinn. Bewundernswerterweise, ohne dass dadurch Verrat am kindlichen Wesen der Protagonisten geübt würde.

Nicht nur in dieser Balance zwischen Erwachsenen- und Kindergerechtigkeit zeigt sich, mit wie viel Sorgfalt dieser Film konstruiert wurde. Man beachte etwa, wie geschickt Bildsymbole über den gesamten Film hinweg immer wieder aufgenommen und variiert werden. Vor allem aber zeigt es sich in der Darstellung der Stadt, die von Michael Arias zu Recht als eigentlicher Protagonist des Films bezeichnet wird. Die Detailfülle, mit der Treasure Town zum Leben erweckt wird, ist beeindruckend. Viele Hintergründe wurden realen Stätten Tokios nachempfunden und nur gelegentlich durch fantastische Elemente angereichert. Die Designer gingen sogar so weit, jede Szene der Handlung exakt und geographisch korrekt auf einem Punkt eines fiktiven Stadtplans zu verordnen.

So detailliert die Stadthintergründe sind, so einfach sind die Figurendesigns gehalten, die sich an ihrer Manga-Vorlage orientieren. „Tekkonkinkreet“ bleibt unverkennbar Anime, verzichtet aber auf viele der klischiertesten Stilmerkmale wie die übergrossen Augen oder übertriebenen Gesichtsdeformierungen zur Stimmungsäusserung. Das Resultat ist ein eigenwilliger visueller Stil irgendwo zwischen Ost und West mit hohem Wiedererkennungsfaktor. Geprägt wird dieser auch durch eine Vielzahl zeichnerischer Techniken, von den realistischen Stadthintergründen über die eher „flachen“ Charakterzeichnungen bis hin zu Buntstiftmalereien, die der kindlichen Erfahrungswelt der Charaktere ein visuelles Pendant entgegensetzen. Wie auch „Paprika“ verwendet „Tekkonkinkreet“ darüber hinaus CGI: Der Computer erlaubt die Imitation von selten im Animationsfilm gesehenen Kameratechniken wie verwackelte Point of View-Shots, die sich erstaunlich unauffällig in das Gesamtbild einfügen und die Dynamik der Charakter- und Stadtentwicklung auch auf der visuellen Ebene aufnehmen. So eklektisch all dies in der Beschreibung anmuten mag, so stimmig wirkt es im fertigen Film.

Auch wenn sich „Tekkonkinkreet“ gelegentlich in seinen Nebenhandlungsfäden zu verlieren droht wie ein Fremder in einer Grossstadt, ist Michael Arias ein beeindruckendes Debüt gelungen. Man darf ihm und uns wünschen, dass sein nächstes Projekt nicht wieder zwölf Jahre brauchen wird bis zu seiner Fertigstellung.

Ausstattung:
Die Ausstattung lässt wenig zu wünschen übrig: Die Bildqualität stimmt, die Audiospuren umfassen gleich drei Sprachen (neben dem japanischen Original die deutsche und englische Version) und ebenso viele Audiokommentare (vom Regisseur, dem für den Ton zuständigen Mitch Osias sowie dem Drehbuchautoren Anthony Weintraub), optional mit zuschaltbaren Untertiteln in fast allen Landessprachen Europas. Als Extras gibt’s Trailer zu weiteren Anime-Glanzstücken, sowie ein (verzichtbares) Interview mit Michael Arias und der britischen Band Plaid, die für den Soundtrack verantwortlich zeichnet, sowie als besonders sehenswerte Zugabe den 43-minütigen „Director’s Diary“, der halb Dokumentarfilm, halb Blick hinter die Kulissen der Produktion ist – und vor allem beweist, wie sehr „Tekkonkinkreet“ für Michael Arias ein Wunschkind war.


Seit dem 18. Oktober 2007 im Handel.

Originaltitel: Tekon kinkurîto (Japan 2006)
Regie: Michael Arias
Darsteller: Animation
Genre: Metropolen-Märchen
Dauer: 106 Minuten
Bildformat: 16:9 Widescreen (2.35:1)
Sprachen: Japanisch, Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch, Englisch für Hörgeschädigte, Arabisch, Bulgarisch, Dänisch, Finnisch, Griechisch, Hebräisch, Hindi, Holländisch, Isländisch, Kroatisch, Norwegisch, Polnisch, Rumänisch, Schwedisch, Slowenisch, Türkisch, Ungarisch
Audio: Dolby Digital 5.1
Bonusmaterial: Audiokommentare von Michael Arias (Regie), Mitch Osias (Ton), Anthony Weintraub (Drehbuch); Interview mit dem Regisseur und den Score-Komponisten; Trailer, „Director’s Diary“

Im Netz

Den Trailer kann man sich hier ansehen. Sehr schön anzusehen ist auch die offizielle (japanische) Seite zum Film . Verständlicher, aber wenig schön, ist das englische Pendant. Und hier und hier gibt es Interviews mit Michael Arias zum Film und seiner Arbeit im Allgemeinen.

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