„Die Marquise von O.“ von Eric Rohmer

Ein Märchen von der Umwälzung der Weltordnung

„Die Marquise von O.“ von Eric Rohmer

Während die Literatur der Weimarer Klassik in ihrer edlen Einfalt und stillen Grösse noch am nachklingen war, stellte Kleist ein Tabuthema ohnegleichen in den Mittelpunkt seiner skandalösen Novelle „Die Marquise von O…“ – nämlich die Vergewaltigung einer bewusstlosen Frau. Eric Rohmer hat den bekannten Kleist-Text mit einem hervorragenden Schauspieler-Ensemble wortgenau verfilmt.

Von Adrian Wettstein.

marquise von o„Die Marquise von O…“ ist eine von Kleists bekanntesten Novellen. Sie beginnt fulminant mit einer Zeitungsannonce, in welcher die tadellose Witwe Julietta, Marquise von O…, bekannt gibt, unwissentlich schwanger geworden zu sein. In der Annonce schreibt sie ausserdem, dass sie entschlossen sei, den ihr unbekannten Vater des Kindes zu heiraten. Rückblickend wird dann erzählt, wie es zu dieser unerhörten Begebenheit gekommen ist. Der Vater der Marquise ist Kommandant auf einer Zitadelle, welche während eines Gefechts von russischen Truppen erstürmt wird. Die Marquise fällt während der Kämpfe in die Hände russischer Soldaten, wird aber vor Misshandlungen durch die Hand des Grafen F. gerettet.

Monate später meldet sich der totgeblaubte heldenhafte Graf auf der Durchreise und ist fest entschlossen, die Marquise auf der Stelle zu heiraten. Trotz seiner sehr unkonventionellen stürmischen Forderung wird dem Grafen eine positive Antwort in Aussicht gestellt. Während seiner geschäftlichen Abwesenheit wird allerdings die Marquise schwanger, ohne diesen Zustand freilich selbst fassen zu können. Nach der Untersuchung durch einen Arzt, der Nachprüfung einer Hebamme und nach verzweifelten Gesprächen mit der Mutter, wird Julietta des unsittlichen Verhaltens bezichtigt und aus der Familie verstossen. Die Marquise zieht mit ihren zwei Kindern aus erster Ehe auf den Landsitz und gibt die eingangs erwähnte Zeitungsannonce auf.

Juliettas Mutter zweifelt nun doch daran, ob die Verstossung der Tochter nicht zu voreilig erfolgt sei. Durch eine List erfährt sie, dass Julietta tatsächlich nicht weiss, von wem sie schwanger ist, in der Folge kommt es zu einer melodramatischen Versöhnungs-Szene mit den Eltern. Schliesslich meldet sich der mutmassliche Vater auf die Zeitungsannonce und es stellt sich heraus, dass der heimliche Vergewaltiger niemand anders als der edle Graf ist, welcher ehedem schon um die Hand der Marquise angehalten hat.

Risse in der bürgerlichen Ordnung

Eric Rohmer ist bekannt dafür, dass er Filme in Zyklen gedreht hat, von den 60er bis in die 70er Jahre hinein etwa die „Contes Moraux“. Dies sind Filme, in denen vor allem viel geredet wird, hauptsächlich über die Liebe. Die Filme kommen ohne grossen Aufwand an Dekor aus und wirken in ihrer Anlage immer sehr leicht, stellenweise fast improvisiert. Es liegt also nicht einfach auf der Hand, dass sich Rohmer nach einem solchen Film-Zyklus an eine Literaturverfilmung wagte, noch dazu an einen Text, der so perfid bis in die Satzzeichen durchkomponiert ist. Unter der Oberfläche sind alle Erzählungen von Kleist voll von Ungeheuerlichem und Bedrohlichem, manchmal aber auch augenfällig von schierer Gewalt – da wird schon mal einer durch den Saal geschleudert und sein „Hirn an den Steinen versprützt“.

In „Die Marquise von O…“ rüttelt Kleist mindestens an drei Grundpfeilern der bürgerlichen Gesellschaft. Zuerst werden die Glaubenssätze der kirchlichen Lehre gehörig strapaziert: nicht genug damit, dass die vergewaltigte Marquise explizit mit der unbefleckten Empfängnis Mariens in Bezug gesetzt wird und die Auferstehung des „tödlich durch die Brust geschossenen“, „teuflischen“ Grafen implizit an die Auferstehung Christi erinnert, nein es werden vom Erzähler im Laufe der Geschichte auch noch allerlei zweifelhafte Dinge als „heilig“ bezeichnet. Zweitens sind bei Kleist die Ideale bürgerlicher Tugenden auf dem Prüfstand: an der Ehrenhaftigkeit des Grafen und der Sittsamkeit der Marquise gab es bis zu diesem merkwürdigen Fall nie den geringsten Zweifel. Drittens wird der Status des Vaters als autoritäres Familienoberhaupt Stück für Stück demontiert.

Kleist geht es bei diesen Verunsicherungen nicht um einen gewaltsamen Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft. Man muss diese Brüche auch gar nicht nur auf einer gesellschaftlichen Ebene lesen, sondern kann sie auch auf die Subjekte selbst beziehen: die Frage wäre dann, ob ein Mensch sich selbst trauen, ob er tatsächlich immer Urheber seines Handelns ist? Können ihn nicht trotz aller Tugendhaftigkeit Triebe überrumpeln, kann ihn sein eigenes Bewusstsein nicht täuschen? In Kleists Texten ist zu spüren, wie durch das Aufkommen der Moderne bisher unverrückbare Ordnungen in Bewegung geraten und deshalb gefragt wird, an welchen bisherigen Gewissheiten noch Halt ist.

Ein ausgezeichnetes Schauspieler-Ensemble

Abgesehen von kleinen Ausnahmen folgt Rohmer Kleists Text bei der Verfilmung exakt, auch in der Gestaltung der Dialoge. Er hat diese unglaubliche Geschichte schnörkellos in Szene gesetzt. Es ist wie so oft bei Rohmer-Filmen, dass man manchmal fast denken möchte, dass da recht Alltägliches gezeigt werde, und dann plötzlich doch spürt, dass unter dem Konventionellen etwas brodelt. Und damit wird Rohmer wohl auch Kleist gerecht. Diese untergründige Spannung ist hier vor allem den Schauspielern geschuldet. Der junge Bruno Ganz brilliert in seiner ersten Werbung um die Marquise. Man sieht, wie er sich über seine Schuld, die er nicht eingestehen kann, schämt; wie ihn die Konventionen schmerzen, durch die er gehindert ist, in ein echtes Gespräch mit Julietta zu treten, und wie er gleichwohl fest entschlossen ist, seinen ungewöhnlichen Schritt durchzuführen.

Grossartig ist auch Otto Sander, wie er zunächst den omnipotenten Pater Familias spielt, wie ihm später im Zorn die Sprache ausgeht und wie er sich schliesslich masslos gerührt bei der Versöhnung nicht mehr unter Kontrolle hat. Auch Edith Clever spielt die schwierige Rolle der Julietta hervorragend. Man kann lange darüber diskutieren, ob die Marquise bei Kleist eine Frauenfigur ist, die eine Wandlung durchmacht und ihr Leben schlussendlich stärker selbst bestimmt. Rohmer lässt diese Entwicklung wie Kleist ein wenig im Ungefähren. Klar ist aber, dass sie anfangs völlig passiv im Schosse der Familie dahinlebt, nicht mit sich selbst bekannt ist und dadurch nicht einmal sagen kann, ob der Graf ihr gefällt oder missfällt. Diese Hilflosigkeit gegenüber sich selbst macht Edith Clever anschaulich.

Es gibt auf der DVD nur eine Tonspur, da Rohmer „Die Marquise von O.“ im Original in Deutsch verfilmt hat. Die DVD kommt auch ganz ohne Bonusmaterial aus.


Seit dem 18. Juli 2008 im Handel.

Originaltitel: La Marquise d’O… (Deutschland / Frankreich 1976)            
Regie: Eric Rohmer
Darsteller: Edith Clever, Bruno Ganz, Edda Seippel, Peter Lühr, Otto Sander
Genre: Drama
Dauer: 98 Minuten
Bildformat: 1.33:1 / 4:3
Sprachen: Deutsch
Untertitel: –
Audio: Dolby Digital 2.0
Bonusmaterial: Trailer
Vertrieb: Max Vision

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Vergleich von Rohmers „Marquise von O.“ und Fassbinders „Effi Briest“

One thought on “„Die Marquise von O.“ von Eric Rohmer

  • 13.07.2016 um 19:25 Uhr
    Permalink

    Otto Sander ist doch nicht der Vater, Sander spielt den Bruder; den Vater spielt Peter Lühr!

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