„The Reader“ von Stephen Daldry
Das Dilemma der Nachkriegsgeneration
„The Reader“ von Stephen Daldry
Regisseur Stephen Daldry schaffte das Kunststück, Bernhard Schlinks literarischen Welterfolg „Der Vorleser“ mit Hilfe starker Schauspieler wie Kate Winslet, Ralph Fiennes und David Kross in eindringlichen Bildern auf die Leinwand zu bannen. Das Filmvergnügen wird einzig durch die arg penetrante Filmmusik geschmälert.
Von Christoph Aebi.
Mit Literaturverfilmungen ist das gemeinhin so eine Sache. Beim Lesen eines Buches kreieren wir unsere eigenen Bilder im Kopf. Stimmen bei einer späteren Verfilmung der literarischen Vorlage die Filmbilder nicht mit unseren eigenen Bildern überein, sind wir oftmals enttäuscht. Der Autor Bernhard Schlink, dessen in 40 Sprachen übersetzter Roman „Der Vorleser“ es als erstes deutsches Buch an die Spitze der New York Times-Bestsellerliste schaffte, sagte dazu: „Ich habe meine eigenen Bilder von den Personen und Szenen meines Buchs und der Film kann nicht meine Bilder reproduzieren.“ Er könne nur erwarten, „dass ein guter Regisseur für die Geschichte und das Thema des Buchs gute neue Bilder findet“. Schlinks Glück ist es, dass sein semi-autobiographischer Roman nun von keinem geringeren als Stephen Daldry verfilmt wurde, welcher vor ein paar Jahren bereits mit „The Hours“ gezeigt hatte, dass er es meisterhaft versteht, sowohl für eine literarische Vorlage die adäquaten Bilder zu finden als auch Schauspieler zu Höchstleistungen zu führen.
Die Liebhaberin entpuppt sich als Nazi-Schergin
Im Gegensatz zum Buch wird die Geschichte im Film nicht chronologisch vermittelt. Auch auf eine Erzählerstimme wurde bewusst verzichtet. Der Film beginnt im Berlin der Neunzigerjahre. Michael Berg (Ralph Fiennes) erinnert sich daran, wie er als 15-jähriger Junge (verkörpert vom deutschen Shooting-Star David Kross) die fast zwanzig Jahre ältere Strassenbahnschaffnerin Hanna Schmitz (Kate Winslet) kennenlernt und mit ihr eine leidenschaftliche Affäre beginnt. Einen Sommer lang besucht Michael Hanna täglich, sie lieben sich und Hanna lässt sich von Michael, einem Ritual gleichend, ein Buch nach dem anderen vorlesen. Doch urplötzlich ist Hanna verschwunden. Jahre später, Michael ist jetzt Jurastudent, besucht er mit der Arbeitsgruppe seines Professors (Bruno Ganz) als Zuschauer einen Prozess, in dem sich fünf ehemalige Wärterinnen des KZ Auschwitz für ihre Taten verantworten müssen. Unter ihnen erblickt Michael Hanna, die sich keiner Schuld bewusst scheint. Sie habe nur getan, was man ihr sagte. Schlimmer noch: Hanna wird von den anderen angeklagten KZ-Wärterinnen beschuldigt, die befehlshabende Wärterin gewesen zu sein und ein besonders belastendes Dokument geschrieben zu haben.

Als Hanna eine Schriftprobe abgeben soll, gerät sie in Panik. Erst jetzt merkt Michael, dass Hanna Analphabetin ist. Ihre Scham darüber veranlasst sie, alle Schuld auf sich zu nehmen. Sie wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Michael ist hin- und hergerissen zwischen der Abscheu über Hannas Taten und den starken Gefühlen, die er für diese Frau empfunden hat und immer noch empfindet. Alle weiteren Beziehungen in seinem Leben werden durch diese erste grosse Liebe überschattet. Michael schickt Hanna einen Kassettenrekorder ins Gefängnis und sendet ihr regelmässig Kassetten, auf denen er ihr ganze Bücher vorliest. Damit bringt sich Hanna im Gefängnis Lesen und Schreiben bei. Als sie nach 20 Jahren Gefängnis entlassen werden soll, bittet eine Gefängnisangestellte Michael, Hanna bei ihren ersten Schritten in der für sie fremd gewordenen Welt beizustehen. Nach über 30 Jahren treffen sich die beiden zum ersten Mal wieder: Ein Treffen mit ungeahnten Konsequenzen.
Eindringliche Bilder und formidable Schauspielerleistungen
Wie auch schon das Buch stellt der Film die grossen Fragen nach Schuld und Vergebung, ohne den Zuschauer mit einfachen Antworten darauf abzuspeisen. Es ist ein Film über die Nachkriegsgeneration, welche die unfassbaren Verbrechen, die ihre Eltern begangen haben, bewältigen muss. Ein Film über die Spannung, jemanden verurteilen zu wollen, weil er grausame Taten begangen hat und dieselbe Person gleichzeitig verstehen zu wollen, weil sie einem nahe steht. Einer Spannung, die fast nicht auszuhalten ist. Regisseur Stephen Daldry ist es in Zusammenarbeit mit seinem Drehbuchautor David Hare (welcher bereits das Drehbuch zu „The Hours“ verfasste) und den Kameramännern Roger Denkins („Revolutionary Road“, „No Country for Old Men“) und Chris Menges („Killing Fields“, „Michael Collins“) gelungen, die verstörende Geschichte in Bildern einzufangen, die noch lange nach dem Kinobesuch haften bleiben. Die Gerichtsszenen, welche auf Protokollen der Frankfurter Auschwitz-Prozesse basieren, sind von einer ungeheuren Eindringlichkeit. Die Schauspielerleistungen sind allesamt formidabel: Kate Winslet (soeben vollkommen zu Recht mit einem Oscar ausgezeichnet) versteht es, Hanna Schmitz nuancenreich mit einer Mischung aus Verletzlichkeit und Härte darzustellen, so dass man sie sich als peitschenschwingende Aufseherin wie als innerlich zutiefst gebrochene Person vorstellen kann.
Durch die penetrante Musik zugekleistert
Der erst 18-jährige David Kross, welcher vor drei Jahren mit seiner Hauptrolle in Detlev Bucks Film „Knallhart“ erstmals für Aufsehen sorgte, kann hier mit seiner Verkörperung des jungen Michael Berg auf internationalem Parkett sein immenses Talent unter Beweis stellen. Den schwierigen Part meistert er mühelos. Ralph Fiennes spielt den erwachsenen Michael Berg mit gewohnter Souveränität. Bis in die Nebenrollen ist der Film mit Bruno Ganz, Hannah Herzsprung, Lena Olin und Alexandra Maria Lara hervorragend besetzt. Wäre da nicht die arg penetrante Musik, die den Film besonders im ersten und dritten Teil geradewegs zukleistert (weniger wäre hier wie so oft mehr gewesen) und die doch manchmal etwas irritierende Tatsache, dass die Schauspieler Englisch mit deutschem Akzent (bei Kate Winslet mit Hilfe eines Vocal Coachs antrainiert) sprechen, der Film wäre ein Meisterwerk geworden. Stephen Daldry hat mit „The Reader“ dieses Prädikat zwar verpasst, eine überdurchschnittlich gelungene Literaturverfilmung mit eindringlichen Bildern und starken Schauspielerleistungen ist es dennoch geworden.
Ab dem 5. März 2009 im Kino.
Originaltitel: The Reader (USA 2008)
Regie: Stephen Daldry
Darsteller: Kate Winslet, Ralph Fiennes, David Kross, Bruno Ganz
Genre: Literaturverfilmung
Dauer: 124 Minuten
CH-Verleih: Ascot Elite
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