„Nordwand“ von Philipp Stölzl
Hochmut kommt vor dem Fall
„Nordwand“ von Philipp Stölzl
„Nordwand“ will – schenkt man dem Untertitel Glauben – „eine wahre Geschichte“ sein. Ist sie auch. Schade nur, dass Philipp Stölzl in unsäglichster Titanic-Manier auch noch eine unwahre Geschichte einbauen musste. Er scheitert damit (wie seine Berghelden im Film) kurz vor dem Ziel in der Vollendung eines Meisterwerks.
Von Tom Messerli.
Es sind 85 Stunden vergangen, seit die vier Männer in die Eigernordwand aufgebrochen sind, die gewaltigste Felswand der Alpen. Oben ging es um den Gipfel: noch nie hat jemand diese Felsmauer durchstiegen, sie wollten die ersten sein. Unten verfolgte eine gaffende Menge sie wie Artisten in der Manege. Unter den Zuschauern übertrafen sich die Wetteinsätze, ob der Coup am Eiger gelingen und den Bezwingern der Nordwand olympisches Gold an den Spielen von Berlin 1936 sichern würde. Münzteleskope richteten sich auf die Wand, Radioreporter posaunten bereits die Sensation in den Äther.
Doch seit knapp 30 Stunden ist nun allen klar, dass die vier gescheitert sind. 600 Meter unter dem Gipfel haben sie kehrt gemacht, weil sich einer von ihnen verletzt hat. Ihn wollen sie hinunter bringen. Doch das unberechenbare Wetter des Eigers, Sturm, Schnee und Lawinen, macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Die vier Herausforderer der Nordwand wollen nur noch eines: lebendig dem eisigen Tod entrinnen. Dann, innerhalb einer Stunde passiert es: der erste Kletterer stürzt ab, der zweite erfriert, der dritte wird vom Kletterseil stranguliert. Nur Toni Kurz überlebt. Am Seil zusammengebunden mit zwei Toten steht er nun auf einer winzigen Felskante, halb erfroren und völlig erschöpft, abgeschnitten vom Weg nach vorne und vom Weg zurück. 150 Meter unter ihm liegt die Türe zur Rettung, ein Aushubstollen der Jungfraubahnstrecke. Von dort versuchen ein Streckenwärter und drei Bergführer dem halb erfrorenen Überlebenden zu Hilfe zu eilen, doch die Rettungsaktion missrät, weil das Seil, an dem Toni Kurz ins Leben zurückkehren sollte, um blosse 3 Meter zu kurz ist.
Schweizer Berge sind nicht immer schön
So weit die Fakten. Es ist zweifelsohne starker Stoff, aus dem diese Heldengeschichte ist. Ein historisches Drama, welches dem Untergang der Titanic oder der Odyssee von Apollo 13 (beide wurden erfolgreich verfilmt) in keiner Weise nachsteht. Den Filmemachern rund um Regisseur Philipp Sölzl gelingt es denn auch, das Drama am Eiger geschickt in Szene zu setzen. Da stimmen viele Details: die Namen nicht nur der Protagonisten, aber auch der Charaktere aus der zweiten Reihe: alle heissen sie brav Von Allmen und Schlunegger, ihr Schweizerdeutsch ist einwandfrei, geradezu echt. Und die Kleine Scheidegg sieht sogar aus wie die Kleine Scheidegg, mehr noch, es ist die Kleine Scheidegg – gedreht wurde auch am Originalschauplatz. Das dürfte gerade den mit der Region vertrauten heimischen Zuschauerinnen und Zuschauern gut tun. Schliesslich wird nur Weniges als grösseres Übel abgetan, als teutonische Verdrehung gutschweizerischer Werte, geschweige denn Landschaftsbilder.

In „Nordwand“ hat es tatsächlich Berge und der Eiger ist denn auch ein wenig der heimliche Star des Films. Den Filmemachern gelingt es eindrücklich, die Bergwelt oberhalb Grindelwald nach 1930 in Szene zu setzen und der stöckelbeschuhten Männlichenbahnpassagierin sowie dem Sessellift gewohnten Lauberhornauffahrer ein Bild von einer Zeit zu vermitteln, als die Welt noch frei von Aprés-Ski-Bars und Open Air Konzerten auf über 2000 Metern war. Die Nordwand im Film ist selten ein Sujet für ein Souvenirfoto, oft aber eine nebelumhüllte, mysteriöse und bedrohliche, ja gefährliche Felsmauer. Man steht im Banne der Frage, die auch eingangs des Films gestellt wird: „Wie kann einer da hoch? Warum sollte das überhaupt einer wollen?“ Der Film gibt die Antwort in vielerlei Hinsicht ohne Worte: die Faszination dieser Bergwelt wird eindrücklich vermittelt, was sich in der Eigernordwand abspielt, ist grosses Kino, je grösser der Bildschirm und die Heimkinolautsprecher, umso echter das Erlebnis. „Nordwand“ hilft dem lange totgesagten Bergheldenepos zur sehenswerten Wiedergeburt.
Amor im falschen Film
Schade nur, dass der Stölzl es nicht lassen kann, aus „einer Wahren Geschichte“ einen Film „nach einer wahren Geschichte“ zu machen. Worauf der Film mitunter hinaus will, wird nur schon bei der umgehenden Beantwortung der obenstehenden Frage allzu ersichtlich: „Wenn du oben bist, dann hast du alles vergessen. Ausser den Menschen, dem du versprochen hast zurückzukommen“. Sinn und Unsinn einer solchen Aussage und deren Wahrheitsgehalt seien an dieser Stelle nicht diskutiert, was der Film aber daraus macht, darf gut und gerne als schade bezeichnet werden. Während der Vorbereitungen am Fuss der Nordwand treffen Toni Kurz und Andi Hinterstoisser überraschend auf Luise, Tonis Jugendliebe, die als Journalistin an der Seite des nazitreuen Reporters Arau über die Erstbesteigung berichten soll. Toni liebt Luise immer noch, aber sie scheint dem charmanten Arau zu erliegen, erkennt aber während sich das Drama in der Wand allmählich entwickelt doch ihre wahre Liebe zu Toni, und macht sich sogar auf, den Bergführern bei der Rettung zu helfen. Der Pathos wird bisweilen so unerträglich, dass man sich vereinzelt wünscht, dass anstelle an Stelle eines Bergsteigers doch besser Louise den Tritt verlieren und sich rutschartig von der Leinwand verabschieden würde.
Item, so dürften bei Filmende auch weniger bergbegeisterte zufrieden sein: hoffnungslose Romantiker, und Gleichstellungsbeauftragte, die in Louise die vorfrauenrechtlerische Pionierin finden können, welche sich auf und an macht, die Männerbastion Bergsteigen zu erstürmen. So hat es zwar für alle etwas in „Nordwand“, nur hätte noch mehr Nordwand und weniger Herzschmerz dem Film nicht geschadet und ihm, wenn auch nicht zu olympischem Gold, dann doch sicher zum Prädikat „meisterhaft“ verholfen. So aber bleibt ein guter Film für die ganze Familie übrig, an dem alle von Klein (ab Zwölf Jahren) bis Gross etwas gut finden dürften, und an dem vermutlich sogar der Familienhund und der Stubenkater Gefallen finden werden. Sehenswert.
Ausstattung
Die DVD kommt mit einigem sehenswerten Zusatzmaterial von etwa einer Stunde Länge daher. Ein ‚Making of‘ und zwei Featurettes geben Einblicke in die Filmarbeiten am Eiger, die Special Effects, die hinter der Rekonstruktion des Eigerdramas stehen. Als zusätzliche Tonspuren gibt es einen Audiokommentar und eine Hörfilmfassung. Ergänzt wird die DVD durch entfallene Szenen und Trailer.
Seit dem 24. März 2009 im Handel.
Originaltitel: Nordwand (Österreich, Deutschland, Schweiz 2008)
Regie: Philipp Stölzl
Darsteller: Benno Fürmann, Florian Lukas, Johanna Wokalek, Georg Friedrich,Simon Schwarz, Ulrich Tukur
Genre: Abenteuer, Drama
Dauer: 120 Minuten
Bildformat: 16:9
Sprachen: Deutsch, Deutsche Hörflimfassung für Sehehinderte und Blinde
Untertitel: Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte
Audio: Dolby 5.1
Bonusmaterial: Kinotrailer, Kapitel- / Szenenanwahl, Making Of, Hörfilmfassung für Blinde und Sehbehinderte, Audiokommentare, Featurette: Visual Effects, Entfallene Szenen, Featurette: Am Gipfel – Das Filmteam erklimmt den Eiger.
Vertrieb: Impuls
Im Netz
Trailer
Info und Hintergründe
Hervorragende Multimediasammlung auf GEO.de. Bergsteigerausrüstung, Fotoshow, Wissenstest Berge, und eine 40-minutige Audiodatei.
Die Wahre Geschichte hinter dem Film. Eine Audiofassung einer historischen Reportage aus dem GEO Magazin. Gelesen von Ulrich Tukur, der auch im Film als Arau mitspielt. Unbedingt vor dem Film anhören!
http://www.geo.de/GEOaudio/audios/2008-10-23/GEOaudio139_Extra_Eiger.mp3