Kristín Steinsdóttir: „Eigene Wege“ (Roman )

Die Genügsamkeit einer Beerdigungstouristin

Kristín Steinsdóttir: „Eigene Wege“ (Roman )

Mit Zeitungsaustragen hält sie sich über Wasser, bei Beerdigungen und den anschliessenden Mahlzeiten findet sie billiges Essen und Gesellschaft. Siegtrud ist eine bescheidene Frau, die das Beste aus ihrem einfachen Dasein macht. Kristín Steinsdóttir erzählt die Geschichte der Isländerin und ihre Reise in die eigene Vergangenheit mit ebensoviel Bescheidenheit und bringt damit Form und Inhalt in seltene Übereinstimmung.

Von Sandra Despont.

eigenewegeKind einer Bauernmagd, die die Geburt nicht überlebte, Kind mit einer Flossenhand, einer Hand, die einem Fisch besser anstünde als einem menschlichen Wesen. Das ist Siegtrud und im ländlichen Island kann so ein Kind nur eines tun: auf die Fürsorge mitleidiger, gutherziger Menschen zählen, brav sein und arbeiten. Und genau dies tut Siegtrud. Wer auf einen Märchenprinzen hofft, der das Mädchen rettet, auf ein Filmteam, das gerade zufälligerweise ein rothaariges Mädchen mit Flossenhand für die neueste Hollywoodproduktion braucht, sollte sich anderen Autorinnen und Büchern anderen Zuschnitts zuwenden. „Eigene Wege“ ist keine Tellerwäscherinnengeschichte, sondern bleibt dem einfachen Umfeld Siegtruds treu, selbst wenn sie ihr Schicksal endlich in die Grossstadt, das heisst nach Reykjavík, also in die Stadt, die in Island einer Grossstadt am nächsten kommt, führt und schliesslich sogar eine Reise ins Ausland in Aussicht stellt.

Kaffee gegen Interesse
Siegtrud, seit kurzem verwitwet, lebt in Reykjavík ein einfaches, ein sehr einfaches Leben. Sie entdeckt in der Stadt zahlreiche Möglichkeiten, mit wenig Geld an Essen und Gesellschaft zu kommen. Da sind die Beerdigungen, bei denen sie mit Leidenschaft singt und die restliche Klientel von Leichenmählern begutachtet, die Wohnungsbesichtigungen von Wohnungen, die sie sich nie wird leisten können, bei denen aber gegen ein bisschen Interesse Kaffee ausgeschenkt wird, die Vernissagen und Lesungen und schliesslich die eintrittsfreien Museumstage. Und dann ist da noch die Vergangenheit, in die sich Siegtrud immer wieder vertieft. Es ist nicht viel, was ihr von ihrer eigenen Familie geblieben ist: ein Koffer mit einem französischen Seidenschal, ein Bildband von Frankreich und ein Foto eines exotischen Grossvaters. Nein, kein Nigerianer, nein, kein Amerikaner, nein, auch kein Asiate. Ein Franzose soll er gewesen sein, doch Frankreich scheint Siegtrud gerade geheimnisvoll genug. Jetzt, nach einem arbeitsreichen Leben, nachdem ihre Ehe durch den Tod ihres Ehemanns ein Ende gefunden hat, mit wenigen Verpflichtungen und viel Zeit zum Nachdenken, vertieft sich Siegtrud mehr und mehr in ihre Vergangenheit, stellt Nachforschungen an und fasst schliesslich einen, gemessen an ihrer Lebensperspektive, mutigen Entschluss.

Eine spröde Oberfläche, ein anrührendes Leseerlebnis
Die Länge von „Eigene Wege“ entspricht dem Inhalt: Etwas mehr als hundert Seiten braucht Kristín Steinsdóttir, um Gegenwart und Vergangenheit einer einfachen isländischen Witwe zu skizzieren. Ferner könnte einem das Schicksal einer isländischen alten Frau, die in einer längst vergangenen Zeit aufgewachsen ist und nun in einfachsten Verhältnisssen lebt, kaum sein. Doch die einfühlsame Beschreibung Kristín Steinsdóttirs lässt einen diese Wege nachvollziehen, gerade weil die Autorin kein grosses Trara um ihre stille Heldin veranstaltet. Sie beschreibt Alltag und Geschichte Siegtruds in einer einfachen, präzisen Prosa. So ruhig, wie Siegtrud ihr bescheidenes Leben lebt, so ruhig reihen sich die Momentaufnahmen aus dem Leben der Frau aneinander, so ruhig baut sich vor den Augen des Lesers das Panorama des früheren und des heutigen Islands auf, exemplifiziert an der Lebensgeschichte einer einzelnen Frau. So erahnt man das harte Leben in dem herben, dunklen Island von früher mehr, als man es wissen kann. So erahnt man auch die Beziehungen und Gefühle zwischen Siegtrud und ihrer Ziehmutter mehr, als dass man sie beschrieben findet. Die einfache Zufriedenheit Siegtruds, ihr eigentlich bewegtes Leben wird durch die unspektakuläre Erzählweise in eine Stille geführt, die der Protagonistin entspricht. Diese Übereinstimmung von Form und Inhalt ist es, die „Eigene Wege“ trotz der spröden Oberfläche zu einem anrührenden Leseerlebnis macht.

C. H. Beck
126 Seiten, ca. CHF 26.50

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert