„Capitalism: A Love Story“ von Michael Moore

„Arise ye workers from your slumbers“

„Capitalism: A Love Story“ von Michael Moore

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Es ist die wohl gelungenste und radikalste Provokation, welche das amerikanische Kino seit Jahren gesehen hat. Ein Film mit dem Titel „Capitalism: A Love Story“ lässt während dem Anspann die englische Version der „Internationalen“ erklingen, die einen dazu auffordert, dem blutenden, röchelnden Tier Kapitalismus, welches Michael Moore soeben tödlich verwundet hat, das Genick durchzutreten, um sicher zu sein, dass es wirklich tot ist.

In der amerikanischen Wahrnehmung der Welt gibt es zwei Systeme, unter welchen die Spezies Mensch das Glück oder Pech hat, aufzuwachsen: den Kapitalismus und den Sozialismus. Jahrzehntelange Propaganda hat dafür gesorgt, dass jeder amerikanische Hinterwäldler aufsagen kann, welches der beiden denn nun das gute, und welches das schlechte ist. Wie mutig es ist, auf der amerikanischen Leinwand gegen den Kapitalismus in den Krieg zu ziehen, kann man sich hierzulande kaum vorstellen. Wertschätzen jedoch können auch wir diesen Mut; an den Filmfestspielen Venedig würdigte das Publikum Michael Moores neuen Film mit tosendem Applaus. Verwundern tut dies kaum, denn auch uns hat die Finanzkrise gezeigt, dass ein freier, oder besser gesagt, unkontrollierter Markt nicht unähnlich einem ausgehungerten Wolf in einer Herde Schafe ist.

Amerika, die Dritte Welt
Das Amerika, welches Michael Moores neuer Film zeigt, ist ein Amerika, das man kaum für möglich halten möchte. Ein Land, in welchem Familien reihenweise aus ihren Häuser geworfen und auf die Strasse gesetzt werden, in welchem Firmen die Lebensversicherung ihrer Mitarbeiter kassieren, dessen Familie jedoch die Begräbniskosten übernehmen lässt. „Capitalism: A Love Story“ fehlt es keineswegs an Beispielen, in welche Firmen ihre Mitarbeiter behandeln wie den letzten Dreck und jeden Penny aus ihnen rausquetschen, der sich rausquetschen lässt.

Zwei Enthüllungen schockieren besonders. Erstens, dass amerikanische Airlines ihren Piloten Gehälter zahlen, welche diese dazu zwingen, Zweitjobs nachzugehen, um ihre Existenz zu sichern – tun sie es nicht, sind sie auf Essensmarken angewiesen. Mit einem Gehalt von um die 17’000$ verdienen einige amerikanische Piloten weit weniger als die schlechtbezahltesten Arbeitnehmer bei uns. Daher gilt es zu kellnern, Hunde spazieren zu führen, oder oft Blut zu spenden, will man als Pilot über die Runden kommen.

Die zweite unglaubliche Geschichte ist jene eines Jugendgefängnisses in Pennsylvania, welches nach gewinnmaximierenden Prinzipien geleitet wird. Gewinnmaximierend heisst in diesem Fall, dass man sich den örtlichen Richter kauft, und dafür sorgt, dass Jugendliche für lächerliche Delikte monatelang eingesperrt werden, da dies dem Gefängnis Unsummen an Steuergeldern einbringt. Einer der Insassen verbrachte beinahe ein Jahr dafür in Haft, dass er den Freund seiner Mutter während dem Essen mit einem Stück Fleisch beworfen hatte.

Reagan, Wallstreet und die verlorene „Second Bill of Rights“
Solche Exzesse mögen Extremfälle sein, doch sie sind gleichzeitig beinahe unvermeidliche Auswüchse in einem Land, das den Kapitalismus mehr verherrlicht als jedes andere auf der Welt. Wer in der jüngeren amerikanischen Geschichte weniger bewandert ist, wird zu Beginn und zum Schluss des Films auf eine Zeitreise mitgenommen. Die erste führt in die Reagan-Ära, welche den Beginn des deregulierten Marktes und damit den Beginn einer neuen amerikanischen Gesellschaft einleitete. Reagans Laisser-faire Politik brachte Steuererleichterungen für Unternehmen und Reiche und strich dafür bei den Sozialausgaben. Gleichzeitig öffneten sich mit der Reagan-Ära die Türen zum Weissen Haus für die Wallstreet. Mehr als je zuvor wurden wichtige Regierungsämter mit Finanzhaien besetzt, die dafür sorgten, dass die Banken und Finanzinstitute machen konnten, was sie wollten. Sie setzten, so findet Moore heraus, auch die Finanzspritze 2008 durch, die im Kongress erst durchgefallen war.

© Ascot Elite
© Ascot Elite

Die zweite Zeitreise führt zu jenem Moment in der amerikanischen Geschichte, in welchem Exzesse der freien Marktwirtschaft, wie Moore sie zeigt, wohl hätten verhindert werden können. 1944, ein Jahr vor seinem Tod, kündigte Präsident Franklin D. Roosevelt die „Second Bill of Rights“ an, welche die in der Verfassung von 1789 festgehaltenen Rechte zur Gleichheit aller Bürger ersetzen sollten. Ziel der „Second Bill of Rights“ sollte es sein, jedem Amerikaner Arbeit, ein Zuhause, medizinische Versorgung und gute Bildungschancen zu ermöglichen. Doch Roosevelt starb, bevor seine Idee Wirklichkeit wurde, und mit ihm starb die Hoffnung auf ein Staatssystem, in welchem das Wohl der Menschen wichtiger ist als unbegrenzte unternehmerische Freiheit.

Es geht auch anders
„Capitalism: A Love Story“ bleibt jedoch nicht bei einer Aufzählung deprimierender Wirtschaftsverbrechen, sondern zeigt, dass es durchaus Alternativen zu und Widerstand gegen die Prinzipien der Wallstreet gibt. Zu den Hoffnungsträgern werden eine Robotics Fabrik und eine Grossbäckerei, in welchen alle Mitarbeiter nach Statuten gleichberechtigt und damit auch am Gewinn beteiligt ihres Unternehmens beteiligt sind. Ein Fliessbandarbeiter verdient in einem solchen System, welches Reagan wohl als „sozialistisch“ verschrien hätte, rund 65’000$ im Jahr, mehr als dreimal so viel wie die ein Pilot bei American Eagle.

Auch die Opfer der Hausräumungen und Massenentlassungen schauen keineswegs alle nur zu, wie man ihnen Haus und Arbeit nimmt. Die Rachefantasien, die man während des Films entwickelt, werden für einen Moment gestillt, als ein Vertreter einer Bank versucht zu verhindern, dass eine Familie ihr altes Haus besetzt, und merkt, dass selbst die Polizei auf der Seite der Hausbesetzer ist. Inmitten einer Masse obdachloser Familien, die nicht gewalttätig sind, sondern ihm nur das Unrecht versuchen zu erklären, das er vertritt, kommt er den Tränen gefährlich nah.

Zuletzt zeigt Moore auch, dass es unter den amerikanischen Kongressabgeordneten doch auch noch wahre Helden gibt. Bissige und entflammende Reden wild entschlossener Volkstribune lassen das Herz gegen Schluss höher schlagen; Hoffnung, die kriminellen Machenschaften von Goldman Sacks, Citibank, Bank of America und wie sie alle heissen aufzudecken und ihre Drahtzieher an den Pranger zu stellen, scheint in greifbarer Nähe. Nicht zuletzt, da Moore in Barack Obama einer jener Politiker sieht, welche wirklich das amerikanische Volk repräsentieren. Und nicht die Interessen der Wallstreet.

Auch Jesus mag keine Spekulanten
Wie jeder Michael Moore Film endet auch „Capitalism: A Love Story“ mit einer Aktion, die einen so schnell nicht aus dem Kopf geht. Aus der Herzen aller Menschen der Welt sprechend – Investmentbanker und Börsenmakler zählen wir hier der Fairness wegen mal nicht zu unserer Spezies – sperrt Moore die Wallstreet mit „Crime Scene“ Band ab. Die Message ist klar: was hier bis heute tagtäglich passiert ist, ist kriminell, ist unrecht, ist menschenverachtend – und unchristlich. Diese letzte Behauptung wird uns europäische Kinobesucher weniger überzeugen, und Szenen, in welchen Moore darüber sinniert, ob Jesus die freie Marktwirtschaft gutgeheissen werden, gehören für uns bestimmt zu den schwächeren des Films. Dem amerikanischen Publikum allerdings verkünden sie eine deutliche Message: dem Kapitalismus kritisch gegenüberzustehen macht einem nicht zu einem atheistischen Kommunisten. Sondern zu einem Menschen.


Seit dem 22. Oktober 2009 im Kino.

Originaltitel: Capitalism: A Love Story (USA 2009)            
Regie: Michael Moore
Darsteller: Michael Moore, Finanzhaie, US-Präsidenten, Senatoren und arme Schweine
Genre: Dokumentation
Dauer: 127 Minuten
CH-Verleih: Ascot Elite

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Lukas Hunziker

Lukas Hunziker ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch. In seinem Garten stehen drei Bäume, in seinem Treppenhaus ein Katzenbaum. Er schreibt seit 2007 für nahaufnahmen.ch.

2 thoughts on “„Capitalism: A Love Story“ von Michael Moore

  • 24.11.2009 um 19:29 Uhr
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    Ick find Mikes Kritik absolut berechtigt, wenn er auch leider ausgerechnet den Sozialismus mit seiner rigiden Meinungsdiktatur als „Alternative“ auf den Sockel hebt. Sie ist es nicht, und der Bauchredner der Elitisten, Obama Grinseprinz schon gar nicht, wie der viel schärfere Alex Jones in seiner dramatischen Doku „The Obama Deception“ klarmacht.
    Die wahre Alternative zwischen Raubtier-/Casinokapitalismus und orwellschem Sozialismus ist der III. Weg:
    Eine ECHTE Demokratie und Republik, die weder von handzahmen Marionetten der Bankster und Corporations dirigiert, noch von totalitären ebenso menschenverachtenden kommunistischen Cliquen diktiert wird, sondern SELBSTBESTIMMT vom Volk, d.h. endlich eine direkte, basisdemokratische Gesellschaftsordnung, die keine angeblichen „repräsentativen Vertreter“ braucht, sondern sich selber praktisch und pragmatisch, nicht ideologisch, regiert.
    Und zwar in Form von Runden Tischen und Räten, von der Kommunal bzw. Bezirksebene bis hin zur Landesebene.
    Und keine 4jährigen Amtszeiten mehr, sondern regelmäßiger Austausch alle 2 Jahre, um Korruption und Festbeissen an Posten zu verhindern. Dazu ständige Kontrolle und Überwachung der effektiven Leistung dieser Vertreterräte durch eine Art „Geschworenengruppe“ aus der Bevölkerungsquerschnitt, die sich jedes Jahr komplett neu zusammensetzt,so wie es in Gerichten erfolgreich gehandhabt wird. Es darf da niemand hinein,der nur Partiellinteressen vertritt, sondern wirklich unabhängig ist, also keine Religionen, keine Wirtschaftsverbände, keine Logen, keine Parteienvertreter, keine sonstigen Stiftungen, Institute und Sekten. Denn diese haben alle nur ihre egoistischen Interessen im Auge, nicht das Allgemeinwohl, was oberste Maxime einer gesunden glücklichen Gesellschaft sein sollte.
    DARÜBER sollten wir in der Gesellschaft, in allen Blogs,im Fernsehen diskutieren, NICHT ob die Kappis oder Kommus die Besseren sind. Sind sie beide nicht, haben sie ja zur genüge die letzten 200 Jahre demonstriert, beide sind Versagersysteme, Auslaufmodelle, schädlich bis dorthinaus für den Großteil der Bevölkerung. Die Wahl zwischen diesen beiden ist also nichts anderes, als wenn man Plätze tauscht auf der Titanic, eine Wahl zwischen Pest und Cholera.
    Die Alternative ist der 3.Weg, das Beste aus beiden überholten Systemen plus jede Menge Neuerungen in Richtung absolute Selbstbestimmung, statt unverschämte Tyrranei von oben.

  • 23.05.2012 um 00:52 Uhr
    Permalink

    diese echte demokratie, welche du da beschreibst, kann man schon beim namen nennen: sie nennt sich räterepublik. (ein rat ist auf russisch sowjet) also wie baut man denn eine räterepublik auf? von unten herauf, föderalistisch. also hat jedes quartier, jedes dorf und jede fabrik hat die grösstmögliche entscheidungsfreiheit und dinge, die man besser bezirksweise, kontinental oder global regeln sollte, haben halt einen eigenen rat, wichtig ist halt nur das die wahl von den ratsmitgliedern entweder zufällig ist, oder halt meinungen und nicht visagen gewählt werden (infobroschüren statt wahlplakate)…

    aber jetzt ist die frage, wie man eine solche strucktur hinbringen kann, denn es besteht ja schon eine diktatur des kapitals. diese strucktur bekommt man, indem deren macht zuerst in frage gestellt wird, eine eigene aufgebaut, und deren schliesslich zerstört wird. in der praxis kann das verschiedene formen annehmen,

    [
    was du beschreibst ist kommunismus. es ist nicht schlimm, dass du ihn als versagesrystem bezeichnest, denn unser schulsystem (zumindest die bücher) sind auf dem gebiet nicht so sattelfest. wenn du dir eine echte meinung über den kommunismus bilden willst, dann lies das abc des kommunismus:
    http://www.marxists.org/deutsch/archiv/bucharin/1920/abc/1kapges.htm
    oder halt viele alte werke von philosophen die sich mit kapitalismusanalyse, revolutionstheorie und so weiter befasst haben.
    ]

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