John Buchan, Alfred Hitchcock „Die 39 Stufen“ (Theater Biel Solothurn)
Ganz, ganz grosses Kino!
John Buchan, Alfred Hitchcock „Die 39 Stufen“ | Theater Biel Solothurn

Das Theater Biel Solothurn zeigt mit „Die 39 Stufen“ eine fabelhafte Schweizer Erstaufführung, die trotz oder gerade wegen ihrer Länge von fast drei Stunden mit grosser Schauspielkunst auf einer tollen Bühne durchwegs unterhält, Spass macht und in einer Art und Weise inszeniert ist, die man selbst sehen muss, um es zu glauben. Hingehen!
Von Sabrina Glanzmann.
Unüblicherweise muss sich die Rezensentin zum Beginn dieses Textes kurz selbst erklären: Es ist irgendwie undankbar, über die Schweizer Erstaufführung von „Die 39 Stufen“ am Theater Solothurn zu schreiben. Weshalb? Natürlich heisst eine Aufführung besprechen immer auch, einiges auslassen zu müssen und sich auf einzelne Szenen und Elemente zu beschränken. In diesem Fall scheint es aber schier unmöglich, dieser unglaublichen, hochamüsanten Inszenierung von Christian Doll in wenigen Abschnitten gerecht zu werden. Was auf der Bühne während zweieinhalb Stunden zeigen wird, ist eine bunte Mischung aus britischer Komödie, Variété, Filmpersiflage, chaplineskem Slapstick und lokalpolitischer Satire in einem. Und diese Überladung ist nicht too much, sondern gelingt mehr als bestens.
Die Schweizer Adaption von Hitchcocks frühem schwarzweiss-Film „Die 39 Stufen“ um den gelangweilten Gutbürger Richard Hanney, der durch schräge Umstände in die Welt der Spionage gerät, hat das Publikum von der ersten Sekunde an auf ihrer Seite. Etwa, wenn Mario Gremlich als einladender Conférencier mit „Good evening ladies and gentlemen, willkommen in der London Music Hall“ begrüsst und auf das „schmucke“, aber „etwas baufällige“ Theater hinweist, in dem die „Decke bröckelt.“ Diese Anspielungen auf das im August vom Solothurner Gemeinderat verworfene Sanierungsprojekt versteht das Publikum und bricht in schallendes Gelächter aus. Das hemmungslose Lachen sollte im weiteren Verlauf des Abends auch nicht mehr wirklich verstummen.

Theater, Film, Realität?
Der Conférencier erklärt, dass in dieser London Music Hall ein berühmter Regisseur seinen neuen Film drehen werde, also sei dies eigentlich gar kein Theater, sondern ein Filmstudio, dass ein Theater darstellt. Solche Brüche, ein solches Spielen mit Realität und Illusion ist ein durchgehendes Motiv der ganzen Inszenierung; dazu gehört auch, dass die Schauspieler auch aus ihrer Rolle fallen. Als ein Freiwilliger aus dem Publikum gesucht wir, der die Filmhauptrolle übernehmen möchte, steigt von der zweiten Reihe aus kurzerhand ein Mann auf die Bühne – es ist aber Schauspieler Max Merker, der Richard Hanney verkörpert und von Gremlich zunächst immer als „Max“ angesprochen wird. Wieviel von allem ist Theater, wie viel Film, wieviel Realität? Es bleibt eine schnelle, atemlose Mischung von allem.
Während Hanney (oder eben Max?) von einen Variété-Clown im Trickkasten „zersägt“ wird, erfahren die Zuschauer mehr über die eigentliche Handlung des Krimis, danach fällt, wiederum aus der zweiten Reihe, ein Schreckpistolenschuss: Katja Tippelt alias Annabella Schmidt tritt auf und bittet Richard Hanney um Hilfe: „Haben Sie schon von den 39 Stufen gehört?“. Von da an geht alles ganz schnell: in Hanneys Wohnung spricht die Agentin von „strenggeheimen Geheimstinformationen“, die mit einem Professor in Schottland zu tun haben, doch ehe sie Hanney genaueres dazu sagen kann, ist sie tot, erstochen. Nun ist es an Hanney, in Schottland dem Geheimnis der ominösen Stufen auf den Grund zu gehen. Fortan gejagt als Mordverdächtiger, ist er gleichzeitig Gejagte und Jäger.
Auch Hitchcock tritt auf
Die Bühne zeigt die Wohnung in schönster Film Noir-Manier ganz in schwarzweiss gehalten, wie auch die Kostüme – fast ist es, als sässe man tatsächlich in einem alten Clubkino und sähe sich einen Klassiker an. Überhaut liefert Fabian Lüdicke als Verantwortlicher für Bühne und Kostüme eine Meisterleistung. Durch das rasche Umstellen von Kisten, Türrahmen oder Treppen sowie Wand- oder Möbelteilen wähnt man sich immer wieder an neuen Orten; ebenso fliessend wechseln die Schauspieler dauernd von Rolle zu Rolle (insgesamt sind es einige Dutzend) und ernten dafür einen Szenenapplaus nach dem anderen. Zum Beispiel dann, als ein und dieselbe Person in Sekundenschnelle vom Polizisten zum Zeitungshändler zum Zugschaffner wechselt, was mit dem raschen Wechseln verschiedener Hüte indiziert wird. Das Timing ist schnell auf Hanneys Reise, die ihn von Edinburgh zu einem schottischen Landbauernhof bis zum gesuchten Professor führt, der sich schliesslich als der eigentliche Bösewicht entpuppt.
Herzerwärmend, wie die Verfolgungsjagd durch die schottischen Highlands als zauberhaftes Schattenspiel auf Grossleinwand gezeigt wird, wo als Schattenfigur auch plötzlich Hitchcocks Büste erkennbar wird; wie in seinen Filmen tritt er also auch hier für kurze Zeit selbst auf.

Tosender Schlussapplaus
Alle vier Schauspieler können in ihren zig Rollen durchgehend überzeugen, was bei einer Spielzeit von beinahe drei Stunden nicht selbstverständlich ist. Besonders das Gedächtnisgenie „Mister Memory“ von René-Philippe Meyer erfordert schon nur vom Text her eine grosse Konzentration: als dieser mit der Schilderung einer hochkomplizierten mathematischen Formel das Mysterium die „39 Stufen“ löst, wird einem schon nur vom Zuhören schwindlig. Gekonnt eingebaut sind auch die vielen Film-, Theater- und anderen Zitate, die von „Hol schon mal den Wagen, Harry“ über „Ich habe einen Traum“ und „Sein oder nicht Sein“ reichen bis zum „Mann, der zuviel wusste“, als Mister Memory am Schluss stirbt. Und ein weiteres Bravo geht an den Musiker Jaap van Bemmelen, der die Aufführung mit seinen Klängen aus Gesang und den verschiedensten Instrumenten begleitet und damit auch mithilft, unterschiedliche Szenerien und Handlungen zu schaffen. So schafft er es, vom Fahrtakt eines Zuges bis zu krimitypischen Suspenseklängen alles stimmig zu kreieren.
Ja, diese Kritik ist eine grosse Lobeshymne voller Superlative und positiven Bewertungen – die Aufführung hat es auch voll und ganz verdient. Der frenetisch-tosende Schlussapplaus des Publikums honorierte diese grosse Leistung. Und was es mit den WC-Papierröllchen auf sich hat, die den Zuschauern in der Pause verteilt werden, sei an dieser Stelle nicht verraten. Es bleibt nichts anderes übrig zu sagen als die dringende Empfehlung: Unbedingt hingehen, unbedingt ansehen.
Besprechung der Premiere vom 25. November 2009 (Schweizer Erstaufführung).
Weitere Vorstellungen Solothurn: 28. November 2009, 01., 09., 11., 17. und 31. Dezember 2009 (Silvestervorstellung inklusive Apéro), 22. Januar 2010.
Premiere Biel: 04. Dezember 2009. Weitere Vorstellungen Biel: 30. Dezember 2009, 05., 09., 26. Januar 2010, 09. und 11. Februar 2010.
Gastspiele: 15. Dezember 2009, Stadttheater Olten, 26. Februar 2010, Kultur- und Kongresshaus Aarau, 05. März 2010, Aula-Universität Fribourg.
Darsteller: Max Merker, Katja Tippelt, Mario Gremlich, René-Philippe Meyer
Inszenierung: Christian Doll
Bühne und Kostüme: Fabian Lüdicke
Musikalische Leitung: Jaap van Bemmelen
Dramaturgie: Silvie von Kaenel
Licht: Samuel Schmid
Regieassistenz: Joris Freisinger
Regie- und Dramaturgiehospitanz: Silvio Rohner
Bühnen- und Kostümhospitanz: Adrian Beer
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, inklusive Pause
Im Netz
www.theater-solothurn.ch