Hansjörg Schneider „Sennentuntschi“ (Stadttheater Bern, Vidmar 1)

Personifizierter Alptraum

Hansjörg Schneider “Sennentuntschi“ | Stadttheater Bern, Vidmar 1

Foto|Copyright: Annette Boutellier
Foto|Copyright: Annette Boutellier

Elias Perrig, Schauspieldirektor am Theater Basel, inszeniert Hansjörg Schneiders Skandalstück „Sennentuntschi“ in den Berner Vidmarhallen direkt, plakativ und deshalb sehr beklemmend. Trotz passender Bühne und guter Schauspielerleistung war der Schlussapplaus zögerlich – ein Zeichen von Überforderung oder Missgefallen?

Von Sabrina Glanzmann.

In letzter Zeit machte die „Sennentuntschi“-Sage vor allem wegen Michael Steiners geplanter aber budgetgebeutelter Kinoverfilmung von sich reden – das Berner Theaterpublikum hat nun die Gelegenheit, sich über die Inszenierung von Elias Perrig zu unterhalten. Dabei wäre es interessant, dem einen oder anderen Gespräch zuhören zu können, denn das, was da auf der Bühne gezeigt und gesprochen wird, dürfte nicht für jedermann leicht verdaulich sein. Will es aber auch nicht. Denn Hansjörg Schneiders Adaption des Motivs um drei Sennen, die aus einer Mischung aus gelangweilter Alp-Arbeitsroutine, Einsamkeit und sexuellem Notstand heraus eine Puppe basteln, sich an ihr vergehen bis diese eine lebendige Frau wird und sich grausam an ihnen rächt, ist kein Stoff für eine besinnliche vorweihnachtstaugliche Komödie. 1981 endete die Ausstrahlung von Schneiders eigener Inszenierung am Schweizer Fernsehen zu einem handfesten Skandal, in den Medien, konservative Aktionskomitees und besorgte Elternverbände involviert waren. Gleichzeitig hat Schneiders Vorlage viele andere Künstler inspiriert, wie zum Beispiel den Bieler Komponisten Jost Meier, der eine gleichnamige Oper schrieb.

Foto|Copyright: Annette Boutellier
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Alpgesänge, Tischgebete, Sehnsüchte

Elias Perrig hat die Vorlage zu einer naturalistischen Umsetzung inspiriert. Da steht mitten auf der grossen Vidmar 1-Bühnenfläche ein kompaktes Alphüttchen (Bühne: Beate Fassnacht) das sofort die Enge, den spärlichen Raum indiziert, auf dem die Sennen die Tage und vor allem Nächte zusammen verbringen müssen. Dunkel ist es, manchmal kommen Blitz und Donner, während Benedikt (Stefano Wenk), Fridolin (Ernst C. Sigrist) und Mani (Sebastian Edtbauer) nach getaner Arbeit bei Erbssuppe und viel Rotwein ihre Alpgesänge, Tischgebete und körperlichen Sehnsüchte artikulieren. Dies geschieht in dialektal gefärbter Sprache (bei Sigrist und Wenk schweizerisch Berndeutsch, bei Edtbauer Bayrisch), was zur angelegten Alpsituation passt – ein Bühnenhochdeutsch wäre hier störend gewesen.

Besonders eindringliche Alpgesänge erzeugen die beklemmend-düstere Grundstimmung, die sich allmählich zuspitzt: so wird Sigrists Fridolin, der sich schon zu Beginn ausgiebig an seinem Geschlechtsteil kratzt, immer unangenehmer und neckt seine Mitsennen mit Anspielungen auf deren Ehefrauen, die er am Tanzabend „ansprechen“ will. Kein gutes Gefühl für die beiden, sind sie wie auch Fridolin allmählich gezeichnet vom Alpleben und sehnen sich nach Zuhause, nach emotionaler Nähe, nach Sex. Sigrist gibt dem Kotzbrocken Fridolin einen verzweifelt-hysterischen Unterton, der sehr gut zur Geschichte passt. Dadurch wird einem klar, dass es noch gröber kommen wird.

Nymphomanische Unersättlichkeit

Und so kommt es auch: Nach genügend Rotwein verlieren auch Benedikt und Mani ihre Hemmungen und die drei basteln sich eine Puppe aus Mistgabel, Flasche und Jacke, an der sie sich mit umgebundenen Melkschemeln und mit eineindeutigem Vokabular vergehen. Tags darauf wieder ernüchtert, wollen Mani und Benedikt die Puppe loswerden, nicht aber Fridolin – und wird prompt er von ihr angesprochen. Milva Stark als automatenhaftes „Sennentuntschi“ plappert alles nach, was die Männer von sich geben – die Herren findens lustig und benutzen sie abwechselnd die ganze Nacht als lebendiges „Gummisusi“. Glücklicherweise lässt Perrig dies aber in der unsichtbaren Schlafkammer abspielen. Die Lust und die Lustigkeit vergeht den Sennen aber schnell, weil Maria, wie sie das Tuntschi an die heilige Jungfrau anlehnend nennen, deren Grausigkeiten schnell lernt: „Chum, vogle“, das will sie die ganze Zeit, pausenlos. Sie wird zur unersättlichen, groben Nymphomanin. Benedikt, Fridolin und Mani kommen jammernd an ihre Grenzen, klammern sich an die vom Sexschweiß beschlagenen Hüttenfenster und sehnen sich nach wahrer Erlösung – wohl vergebens, wenn sich am Schluss Maria über Mani beugt und die Bühne plötzlich zweideutig dunkel wird. Das anfängliche Objekt der Begierde wurde für die Sennen zum personifizierten – im wahrsten Sinne des Wortes – Alptraum. Wurde ihnen ihre eigene verzweifelte Lust zum tödlichen Verhängnis?

Foto|Copyright: Annette Boutellier
Foto|Copyright: Annette Boutellier

Die Inszenierung Perrigs ist unzimperlich und plakativ wie der Text selbst, was vor allem visuell nicht einfach zu ertragen ist. Raffiniert ist in diesem Zusammenhang die Alphütte von Beate Fassnacht , die durch ihre spitz zulaufende Anlage den Zuschauern nie alles preisgibt. Je nachdem, welchen Sitzplatz man hat, ist nicht alles, was sich im Innern der Hütte abspielt, zu sehen und kann deshalb nur erahnt werden. Das abgrundtief Tragische an der Geschichte wird dadurch noch unterstrichen.

Eindringlich gibt Milva Stark das bedrohliche Tuntschi, das mit seinem Psychoblick  irgendwie an „Chucky, die Mörderpuppe“ aus dem gleichnamigen Horrorfilm erinnert. Überhaupt machen alle Schauspieler ihre Sache sehr gut und sind wohl deshalb beim  Schlussapplaus sichtlich gezeichnet – dieser fällt zögerlich und für eine Premierenaufführung eher spärlich aus. Ob es an der Inszenierung selbst oder an der bedrückenden Thematik liegt, musste jede und jeder im Publikum für sich selbst beantworten.

Besprechung der Premiere vom 18. Dezember 2009.

Weitere Vorstellungen bis zum 12. März 2010. Nähere Informationen dazu auf www.stadttheaterbern.ch.

Inszenierung: Elias Perrig
Darsteller: Milva Stark, Stefano Wenk, Ernst C. Sigrist, Sebastian Edtbauer
Bühne, Kostüme: Beate Fassnacht
Sounddesign: Pascal Nater
Dramaturgie: Karla Mäder
Regieassistenz und Abendspielleitung: Olivier Bachmann
Inspizienz: Miklos Ligeti
Souffleuse: Margot Vandrich
Bühnenbildassistenz: Romy Springsguth
Kostümassistenz: Verena Kopp

Dauer: ca. 90 Minuten, ohne Pause.

Im Netz
www.stadttheaterbern.ch

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