Ödön von Horváth „36 Stunden oder Die Geschichte vom Fräulein Pollinger“ (Klibühni Chur)
Vom Ankommen bei sich selbst
Ödon von Horváth “36 Stunden oder Die Geschichte von Fräulein Pollinger“ | Klibühni Chur
Mit der Romanadaption von Ödön von Horváths „36 Stunden oder Die Geschichte vom Fräulein Pollinger“ liefert Magdalena Nadolska in der Churer „Klibühni“ ein überzeugendes Regiedebüt, das sein Publikum mit einfallsreichen theatralen Mitteln unterhält, nachdenklich macht und fordert. Im Februar und April kann die Inszenierung auch auf Berner und Zürcher Bühnen bestaunt werden.
Von Sabrina Glanzmann.
Ja, das Leben ist wahrlich kein Ponyhof. Hätte es dieses Sprichwort bereits in den 1920-er Jahren gegeben, wäre es für Ödön von Horváth beim Schreiben seines Romans „36 Stunden“ vermutlich eine Inspirationsquelle gewesen – zugegebenermassen eine äusserst pathetisch-zynische, bei der aber der schelmische Witz durchbricht. Dies symbolisiert die Thematik von „36 Stunden“ sehr gut. Die „Geschichte vom Fräulein Pollinger“ ist nichts Geringeres als eine Geschichte über das Zurechtkommen mit dem eigenen Leben und mit sich selbst. Dazu gehören Zustände wie Arbeitslosigkeit und der gleichzeitige Wunsch nach materieller Erfüllung, und immer wieder die Suche und Sehnsucht nach Bestätigung, Anerkennung, Nähe – nach Liebe.
Die Bündnerin Magdalena Nadolska hat für ihr Regiedebüt die Romanadaption von „36 Stunden“ ausgewählt und die Stückfassung dazu selbst verfasst. Sie bringt diesen eher unbekannten Horváth-Text als Schweizer Erstaufführung auf die Bühne und erlaubt so, den Autor jenseits von „Kasimir und Karoline“ oder den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ zu entdecken. Die drei Schauspieler Felicitas Helena Heyerick, Krishan Krone und Michael Glatthard schlüpfen dabei in beeindruckende 20 verschiedene Rollen und nehmen abwechselnd auch immer wieder die Erzählinstanz ein.
Das Publikum entschlüsselt selbst
Der Abend beginnt damit, dass die junge Näherin Agnes Pollinger (Felicitas Helena Heyerick) vor dem Arbeitsamt auf den Kellner Eugen Reithofer (Krishan Krone) trifft. Die beiden Arbeitslosen kommen rasch ins Gespräch und zum ersten Mal zeigt sich in dieser Szene das Bühnenpotenzial von Horváths Text, das Nadolska für die Inszenierung geschickt zu nutzen vermag: die Annäherung der beiden geschieht durch vermeintlich belanglosen Small Talk über aussergewöhnliche Nachnamen; ganz fein und beinahe neckisch gehen Heyerick und Krone hier mit dem Text um, wodurch die Harmonie zwischen Agnes und Eugen schön hervorkommt. Auch das schlichte, funktionale Bühnenbild (Nicola Vitali und Ensemble) trägt einen wichtigen Teil dazu bei. An den beiden Wäscheleinen, je von links und rechts über die Bühne gespannt, hängen Kleidungsstücke und Stoffe in verschiedensten Farben – immer wieder werden diese im Laufe des Abends zu wichtigen Requisiten und indizieren Orte, Personenwechsel oder Vorgänge. So wird zum Beispiel die Ulme, unter der sich Agnes und Eugen zum Liebesspiel niederlassen, mittels nebeneinander hängender grüner Kleidung dargestellt. Es macht Spass, diese Symbole als Zuschauer immer wieder zu entschlüsseln und nicht mit plattem Naturalismus bedient zu werden.
Überzeugende, dichte Momente
Agnes und Eugen vereinbaren für den nächsten Tag erneut ein Treffen, an dem Agnes jedoch nicht erscheinen wird. Ihr Leben wird binnen der nächsten 36 Stunden komplett auf den Kopf gestellt. So gerät sie, naiv geprägt von ihren bisherigen, allesamt enttäuschenden Liebschaften, in die Hände eines Kunstmalers (herrlich exzentrisch gezeigt von Krishan Krone), den ihr Zimmernachbar Kastner (Glatthard) empfohlen hat, nur um sie ins Bett zu kriegen. Und Hockeyspieler Harry beeindruckt mit seinem flotten Auto, mit dem er sie an den Starnberger See ausführt und nach dem Essen von Schnitzel und Gurkensalat im Wald vergewaltigt. Der materielle, aber gefühllose Schein hat bitter getrügt. Das Ekel Harry vermag Michael Glatthard überzeugend schlüpfrig zu zeigen; dagegen haucht er den meisten anderen Rollen leider immer dort etwas zu viel Slapstick ein, wo es nicht immer passend ist.
Diese Waldszene gehört zweifellos zu den grossen Momenten des Abends. Dabei hat die Regisseurin glücklicherweise auf eine explizite Form der Darstellung verzichtet. Vielmehr wird mit Hilfe weniger theatraler Mittel wie Bewegungen an den Wäscheleinen, gezieltem Lichteinsatz und Geräuschen erneut mit der Imagination des Publikums gespielt und eine umso dichtere und beklemmende Stimmung geschaffen. Gross ist auch die Barszene, in der sich Eugen von Agnes‘ Nichterscheinen ablenkt und die Schauspieler mit Songs von „I will always love you“ bis „Coco Jambo“ die versiffte Pianobarsituation charmant herüberbringen. Als Agnes nach siebenstündiger Nachtwanderung endlich zum verabredeten Ort gelangt und Eugen ihr anstelle einer Ohrfeige für das verpatze Treffen ein Jobangebot bereithält, schaffen Felicitas Helena Heyerick als geprüfte, aber nun bei sich angekommene Agnes und Krishan Krone als herzensguter Eugen eine derart schaurig schöne Stimmung, dass man völlig gerührt auf einen Kuss wartet – doch dann „ist das Stück fertig.“ Ob für die beiden nun ein Stückchen Ponyhof möglich ist?
Magdalena Nadolska hat mit ihren Schauspielern und ihrem Team eine Inszenierung geschaffen, die Spass macht, witzig ist, aber gerade auch die überwiegend tragische Seite von Horváths Text intelligent und ohne Beschönigung darstellt. Ein überzeugendes Regiedebüt, das definitiv Lust auf mehr macht.
Besprechung der Aufführung vom 15. Januar 2010. Weitere Aufführungen in der Klibühni Chur: 23. und 23. Januar 2010, jeweils 20.30 Uhr
Aufführungen im Tojo Theater, Bern
Premiere: Mittwoch, 3. Februar 2010, 20.30 Uhr. Weitere Vorstellungen: 4., 5. und 6. Februar 2010, jeweils 20.30 Uhr
Aufführungen im Keller62, Zürich
Premiere: Mittwoch, 28. April 2010, 20 Uhr
Weitere Vorstellungen: 29. & 30. April 2010 und 1. Mai 2010, jeweils 20 Uhr
Konzept und Regie: Magdalena Nadolska
Schauspiel: Felicitas Helena Heyerick, Krishan Krone, Michael Glatthard
Licht und Technik: Nicola Vitali
Bühnenbild: Nicola Vitali und Ensemble
Kostüme: Madlaina Bezzola und Linda Semadeni
Assistenz: Johanna Böckli und Adrian Meneguz
Fotos Flyer: Manuel Uebersax
Produktion Gastspiele und Oeil extérieur: Mathias Bremgartner
Dauer: ca. 90 Minuten. Keine Pause.