„Mathilda Savitch“ von Victor Lodato

Auf der Suche nach dem Schubser

„Mathilda Savitch“ von Victor Lodato

Erwachsen werden wäre schwer genug. Doch Mathilda muss dazu noch ihre schockesstarre Familie zum Leben erwecken, den Schubser finden, der ihre Schwester umgebracht hat, und sich auf das Ende der Welt vorbereiten.

Von Sandra Despont.

mathildasavitchGemein sein will Mathilda, sagt sie, und sie ist es auch. Der Teller, der beim Spülen heruntergefallen ist, ist gar nicht heruntergefallen. Mathilda hat ihn absichtlich fallen lassen. Sie ist das Mädchen, das Spinnen die Beine ausreisst und ihren Hund Luke kneift. Und das ist erst der Anfang. Mathilda will „noch schlimmer sein.“

Warten auf das Ende der Welt
Immer noch ist es so: gemeine Mädchen sind ungemein erklärungsbedürftig. Lausebengeln nehmen wir Spinnenbeinausreissereien umstandslos ab, hinter unsüssen Mädchen muss aber was stecken. Und das tut es auch. Die äusserlich heile Welt Mathildas ist nämlich gehörig durcheinander geraten. Zu den üblichen Pubertätswehen kommt die massive Angst vor dem Ende der Welt und der Kampf gegen ihre eisesstarr gefrorene Familie. Die Lähmung und Orientierungslosigkeit de Welt nach 9/11 hat in „Mathilda Savitch“ (die eigentlich Savage heissen müsste, sollte je ein Name einer Figur gerecht werden wollen) ihre Entsprechung im trüben Dahinvegetieren der Savitchs nach dem Tod Helenes, Mathildas älterer Schwester. Ein Jahr ist es her seit Helene vor einen Zug geschubst wurde und seit einem Jahr bewegt sich Mathilda in ihrer Familie wie eine Fremde, durch die hindurchgesehen wird. Schlimm sein entlarvt sich vor dem Hintergrund anwesend abwesender Eltern als eine Strategie um krampfhaft ein wenig Reibungsfläche zu finden, wo nur noch Gleichgültigkeit zu sein scheint. Doch Mathilda belässt es nicht dabei. Insgeheim widmet sie sich der Lösung zweier wesentlich grösserer Probleme: sie bereitet den Keller für den Weltuntergang vor und sie macht sich auf die Suche nach dem Schubser um zu erfahren, was ihn dazu gebracht hatte, das Leben ihrer Schwester auszulöschen.

Mails einer Toten
Immer tiefer wühlt sich Mathilda in das Leben ihrer Schwester, durchforstet Zimmer, Kleiderschränke und Computer. Dort stösst sie schliesslich auf eine E-Mailkorresponenz Helenes, die einen der nicht gerade wenigen Verehrer Helenes ins Spiel bringt: Louis. Überzeugt, dass dieser Louis etwas mit Helenes Tod zu tun haben muss, nutzt Mathilda das mühsam errungene Passwort zum Mail-Account ihrer Schwester, um in Helenes Namen Mails zu verschicken. Doch irgendwie will sich nichts Fassbares ergeben und nach einer katastrophalen Terrorübung im Keller beschliesst Mathilda die Flucht nach vorn: sie muss diesen Louis finden und kennen lernen.

Buch über die Jugend – nicht für Jugendliche
Victor Lodato bewegt sich mit „Mathilda Savitch“ fernab von ausgetrampelten Pfaden von Jugendbüchern. Er schreibt konsequent aus der Sicht seiner Heldin und Mathildas Jugend ist nunmal leider nicht so unbeschwert wie das Klischee der zwar etwas schwierigen, aber mit zahlreichen schönen Erlebnissen gepflasterten freien Jugendzeit das haben möchte. Sie ist eine widerspenstige, parteiische und oft unzuverlässige Erzählerin. Sie lieb zu gewinnen, fällt schwer, denn in diesem seltsamen Übergangsstadium namens Pubertät scheint ihre Persönlichkeit nicht mehr und nocht nicht greifbar. Manchmal möchte man sie bemitleiden, doch ihre Bissigkeit verhindert auch das allzuoft. So folgt man Mathilda durch eine verwirrende Welt, die so treffend kaum jemals beschrieben wurde. Das ist nicht schön, nicht entspannend, sondern mühsam. Keine romantischen ersten Küsse, keine unschuldige Verliebtheit mit Schmetterlingen im Bauch – obwohl Verliebtheit und Küsse nicht fehlen. Doch diese sind halt leider selten so problemlos, wie man sie sich Jahre später rekonstruiert. Mathildas Freundschaft zu ihrer irgendwie besten Freundin Anna ist nicht unkompliziert. Vielleicht ist Mathilda sogar ein bisschen in das schöne, blonde, blauäugige Mädchen, das sie im übrigen für ziemlich einfältig hält, verliebt. Aber nichts ist so einfach und durch die Augen Mathildas kriegt man als Leserin eine gehörige Ladung Pubertätsverwirrung, die man eigentlich gern überwunden sieht. „Mathilda Savitch“ ist gerade deshalb gelungen, weil weder Hauptfigur noch Handlung glatt und bruchlos sind. Die Lektüre ist kein Genuss, aber das ist das Erwachsenwerden auch nicht.

C. H. Beck
299 Seiten, ca. CHF 31.50

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