„Alice in Wonderland“ von Tim Burton

Ein langerwartetes Fest für die Augen

„Alice in Wonderland“ von Tim Burton

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Grosse, wagemutige Fantasien in 3D sind der letzte Schrei – und wen lässt man besser schreien als diesen einmaligen Visionären, Tim Burton, wenn es darum geht, die Welt von Lewis Carrolls Meisterwerken erneut auf die Leinwand zu bringen? Versuch einer Antwort.

Von Tom Messerli.

Lewis Carrolls Buchvorlage beginnt damit, dass die gelangweilte Titelheldin, mit ihrer Schwester im Garten sitzend, auf ein weisses Kaninchen aufmerksam wird, dem sie schnurstracks in dessen Bau folgt, um kurz darauf in einer traumartigen Unterwelt zu landen. Auch Alices jüngstes Abenteuer beginnt mit Langeweile in einem Garten. Die fürchterlich stiere Gesellschaft an einem Gartenfest (und allen voran ihren unerwartet vorpreschenden Ehegatten in spe, den verdauungsproblemgeplagten Hamish), überdrüssig, stürzt Alice Kingsleigh erneut – und unausweichlich – dem weissen Kaninchen (gesprochen von Martin Sheen) hinterher und landet wiederum im Wunderland, oder besser, Unterland.

Dunkle Schatten über einem Wiedersehen mit Freunden
Dort sind einige Charaktere bis zur Unkenntlichkeit verändert worden, doch Alice (gespielt von einer hübschen, zwar soliden, aber nicht überwältigenden jungen Australierin und Neuentdeckung, Mia Wasikowska) trifft auf Altbekannte, allen voran auf die – noch immer – Shisha-rauchende Blaue Raupe (herrlich schläfrige Stimme von Alan Rickman), die Grinsekatze (be- und verzaubernd: Stephen Fry), auf die verspielten Eierköpfe Dideldum und Dideldei (beide gespielt vom kaum erkennbaren Matt Lucas), die Weisse Königin (noch langweiliger als sonst, diesmal aber weniger zu ihrem Verschulden: Anne Hathaway), und natürlich auf den Verrückten Hutmacher (brillant verkörpert von einem perfekten, Jack-Sparrow-hat-vollends-durchgedrehten, und nebenbei-auch-noch-mehr-oder-weniger-alle-nennenswerten-Akzente-des-Englischen-durcheinander-wirbelnden Johnny Depp). So bleibt Unterland auch in der neusten Darstellung immer noch jene fantastische Welt, die Alice als Kind besuchte. Doch damals missverstand sie das Wort Unterland als Wunderland und so findet sie nun wahrlich finstere Zustände vor.

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Unterland ist es schlecht ergangen, seit die bösartige Rote Königin – eine wunderbar furchtbare Mischung erschaffen aus der Herzkönigin aus dem „Wunderland“ und der Roten Königin von „hinter den Spiegeln“ (gespielt von einer grossartigen Helena Bonham Carter, mit spektakulär rundem Kopf) – ihre Schreckensherrschaft begann. So handelt die Geschichte im eigentlichen Sinne von dem Offensichtlichen: Alice soll das wunderländische Unterland von den Fesseln der herzrotköniglichen Tyrannei und ihrem  ungeheuren Jabberwock (gesprochen – man hätte es sich denken können – von Christopher Lee, wie immer gut, aber eben nie neu) befreien.

Wertvorstellungen in der Wertfreien Zone
Die Idee ist an und für sich so alt wie Lewis Carrolls zweites Buch, entspricht sie doch eigentlich der Dramatisierung des berühmt-berüchtigten Nonsens Gedichtes „Jabberwocky“ aus „Alice hinter den Spiegeln“ – allerdings mit in gewisser Hinsicht fragwürdigen Folgen: Drehbuchautorin Linda Woolvertons Neuinterpretation verkommt zu einer vielleicht zu offensichtlich aufgetragenen Stärkung der Frauenrolle, wenn Alice die Rolle des im Gedicht unbekannt bleibenden Drachentöters aus Carrolls Buch einnimmt. Denn so wird die jüngste Erzählung von Alice zu etwas, das sich im Herzen durch und durch von Lewis Carrolls Schöpfung unterscheidet: aus Unsinn wird Sinn, aus Wertefreiheit wird Moral, und somit halten im Film zwei Eigenheiten Einzug, welche es dem brillanten Autor der Originale so bedingungslos aus seinem Werk zu verbannen gelang. Moral im Wunderland kommt einem ein wenig vor wie ein Fumoir in einer Nichtrauchergaststätte. Man wünscht sich hier, dass Woolverton auch so imaginär wie der literarische Vater der Geschichte gehandelt hätte.

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Zweifelsohne einen Lichtblick bietet die Idee der neuen, buchstäblich grossgewachsenen Alice als junge, starke Frau dennoch: Der Drehbuchautorin gelingt es, in Alice sowohl die Figur aus Carrolls Bücher, als auch Lewis Carroll selber zu vereinen. Man mag von dieser Idee halten, was man will, aus metanarrativer Sicht ist sie ein Wurf. Indem sie so nicht in die viktorianische Gesellschaft und Struktur passen will, hat sie viel mit ihrem geistigen Vater gemeinsam. Auch Carroll stemmte sich – derweil er mit seinem literarischen Wurf die Welt der Kinderliteratur neu definierte – erfolgreich gegen die bisweilen endlos verklemmte und „alles-muss-gut-aussehen-Welt“ um ihn herum.

Eine Frage der Dimensionen
Im Film hingegen muss tatsächlich alles gut aussehen, und das tut es auch. Da bleibt einzig die Frage nach der dritten Dimension. Der Film bleibt den Beweis schuldig, dass die Zukunft wirklich Filmen ins 3D-Format gehört und dass dieses mehr kann, als einen Schreckmoment auszulösen. Ungeachtet dessen, wie sehr auch immer sich das Croquet Spiel der Roten Könign aus der Buchvorlage dazu eignen mag, dem bebrillten Kinopublikum einen Igel ins Gesicht zu schmeissen, verpasst auch dieser Film aufzuzeigen, dass 3D dem gut gemachten bisheriges Handwerk voraus ist – Zweiflern seien gerade an Tim Burtons andere Werke erinnert.

© Disney
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Schliesslich gibt es nur einen Tim Burton, und für einen märchenerzählenden Filmemacher, gefeiert für immer innovativere und üppigere Schöpfungen, dürfte es wohl wenig Schöneres geben, als sich auf Carrolls Spielplatz voll von mit Phantasie wuchernden Gemälden und besetzt mit allerlei wunderbar märchenhaften Figuren, auszutoben, seiner eigenen Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen, und dem jüngsten Abbilds dieses sprichwörtlichen Wunderlandes den eigenen Stempel aufzudrücken. Die Verbindung einer 135-jährigen Erfolgserzählung mit Tim Burton machen den Film zu einem unwiderstehlichen, bezaubernd schönen Fest für die Augen. Tim Burtons neustes Werk ist dick aufgetragen wie immer, und deshalb muss man sich den Film einfach anschauen gehen.


Seit dem 4. März 2010 im Kino.

Originaltitel: „Alice in Wonderland“ (USA 2010)
Regie: Tim Burton
Darsteller: Johnny Depp, Mia Wasikowska, Helena Bonham Carter, Anne Hathaway, Crispin Glover, Matt Lucas, Michael Sheen, Stephen Fry, Alan Rickman, Barbara Windsor, Paul Whitehouse, Timothy Spall, etc, etc.
Genre: Fantasy
Dauer: 108 Minuten
CH-Verleih: Disney

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