„Der Wolf“ von Joseph Carol Smith
Was Wölfe denken
„Der Wolf“ von Joseph Carol Smith
In seiner schmalen Novelle schildert Joseph Karol Smith nicht nur die letzten Tage im Leben eines Wolfes; er stattet sie zusätzlich mit eindrucksvollen Naturbeschreibungen aus, entwirft eine einsame Atmosphäre des kalten Winters der Waldtiere und reflektiert über die grosse Frage nach Leben und Tod.
Von Lisa Letnansky.
Wer hat sich noch nie vorgestellt, wie es wäre, das Leben eines Tieres zu führen? Wie muss sich die Hauskatze fühlen, wenn sie gemütlich vor dem Ofen liegt, wie der Vogel, wenn er frei über die Dächer der Menschen fliegt? Und wie wäre es wohl, im Körper des mächtigsten Raubtieres in diesen Breitengraden zu sein und seine Macht und Überlegenheit allen anderen Tieren gegenüber zu spüren? Diesen Eindruck soll nun Joseph Karol Smiths Novelle „Der Wolf“ vermitteln, denn sie zeigt einige Tage aus der Perspektive eines Wolfes, in tiefstem Winter, an einem nicht näher benannten Ort.
Der Wolf mag all seinen Opfer überlegen sein, gegen die Jahreszeiten kann aber auch er nichts ausrichten. Die Beute ist zu dieser Zeit sehr knapp und er muss ständig in Bewegung bleiben, um sich warm zu halten. Schon der kleinste Fehler, ein verknackster Fuss oder eine verpasste Gelegenheit, könnte für ihn den Tod bedeuten.
Ein nachdenkliches Tier
Die Novelle beginnt dann auch mit der Futtersuche. „Ich kann das Viech riechen. Sein Duft ist sauber und stark und erhebt sich über die kühleren Gerüche des Waldes, reizt mich, ruft mich.“ Der Wolf folgt dem verführerischen Ruf; er jagt sein Opfer durch Wald und Wiesen, wobei er seine Umgebung so vollständig wahrnimmt, dass er auch dem Leser einen Eindruck zu vermitteln vermag: die dunklen Wälder, das dichte Unterholz, der Schnee, der alles in Watte packen zu scheint und trotzdem so bedrohlich ist.
Es bleibt aber keineswegs bei einer oberflächlichen Wahrnehmung. Man könnte vielleicht denken, dass der Wolf in einer solchen Situation ausschliesslich von seinem Jagdtrieb und seinem Hunger getrieben wird; bei diesem Exemplar verhält es sich allerdings anders. Vielmehr versucht er sich in sein Gegenüber – in diesem Falle sein Opfer – hineinzuversetzen und es zu verstehen. Ein Grund dafür ist sicher sein Interesse, einen Schwachpunkt zu finden, den er zu seinem Vorteil nutzen kann; die Neugierde des einzelgängerischen Tieres scheint dabei aber eine mindestens genau so grosse Rolle zu spielen.
Visuelle Kommunikation
Hier verfolgt Smith eine Strategie, die zuerst irritierend wirkt, im Verlauf der Geschichte aber durchaus originell und harmonisch erscheint. Der Wolf wird als reflektierendes Wesen dargestellt, das sich nicht nur über sein eigenes Leben und dessen drohendes Ende Gedanken macht, sondern auch über die Leben der anderen Tiere, denen er begegnet. Der Wolf bleibt hier nicht mehr nur ein Wolf; er wird von seinem Schöpfer bis zu einem gewissen Grad vermenschlicht und so zu einer Folie, auf die menschliches Gedankengut projiziert wird. Der erstaunlichste und damit wohl auch am meisten verwirrende Kunstgriff Smiths stellt wahrscheinlich die subtile, fast schon übersinnlich wirkende Art der Kommunikation dar, welche zwischen den Tieren stattfindet. Der Gedankenaustausch findet nicht verbal statt, sondern visuell, durch Blicke in die Augen, wobei ein Tier anscheinend steuern kann, wie viel es seinem Gegenüber preisgeben will: „Ihre Augen sagen mir, dass sie alt ist, aber immer noch stark. Ich sehe in ihnen Bilder aufblitzen, ihre Erinnerungen, das, was sie mir zeigen möchte.“
So folgen wir dem Gedankengang des Wolfes von den Tiefen der Wälder zu den Grenzen seines Reviers, wo er nicht nur auf Vögel und Kaninchen trifft, sondern auch auf das einzige Wesen, das ihm zutiefst unheimlich und verachtenswert ist: den Menschen. Bei dieser Begegnung funktioniert die dem Wolf gegebene Kommunikation nicht mehr, es scheint keinerlei Verbindung zwischen den beiden Lebewesen zu existieren. Und hier nimmt schliesslich auch das letzte Unglück des Wolfes seinen Lauf.
Wolf oder Mensch?
Dass ein Tier „vermenschlicht“ wird, um menschliche Gedanken und Geschichten darzustellen, ist ja nichts Neues. Die Tradition reicht von den moralisierenden Fabeln von Reineke Fuchs bis zu modernen Disney-Filmen, in denen sich Fuchs und Jagdhund die Pfote schütteln. Was bei Smiths Wolf vielleicht neu ist, ist die Tatsache, dass er mit seinem „vermenschlichten Wolf“ nicht ins Kitschige oder Niedliche abdriftet – ganz im Gegenteil. Die Reflektionen des Wolfes über das Dasein an sich, als Einzelgänger ganz auf sich allein gestellt, und darüber, wie schnell sich ein Machtverhältnis verändern kann, sind durchaus tiefgründig und gewichtig.
Dabei leisten auch die Illustrationen von John Spencer ihren Beitrag. Diese zeigen keine niedlichen Tierchen in menschlichen Posen, sondern kraftvolle, reduzierte Abbilder des Wolfes und seiner natürlichen Umgebung.
Berlin Verlag
155 Seiten, ca. CHF 35.90