“Brief an den Vater“ Franz Kafka | Theater Neumarkt, Zürich
Im Schreiben versinken
“Brief an den Vater“ Franz Kafka | Theater Neumarkt, Zürich | 11. Mai 2010

Kafkas Texte sind keine einfache Kost, sein Wesen komplex. Ein Schlüsselwerk, das einen Zugang zu seiner Selbstwahrnehmung vermittelt, ist “Brief an den Vater“, geschrieben in nur drei Tagen. Barbara Webers Inszenierung bringt Kafkas kompliziertes Selbst und sein Schreiben dem Zuschauer ein Stück näher.
Von Rahel Klauser.
Franz Kafka schrieb vor allem nachts. Tagsüber war er, ein studierter Jurist, bei der “Arbeiter- Unfall-Versicherungs-Anstalt“ tätig, 14 Jahre lang. Sein Schreibtisch wird im Gegensatz zur alltäglichen Behördenbürokratie zum Ort eines bisweilen beinahe ekstatischen Zustands. Und oft verwirft er wenige Tage später wieder, was er in den Nächten geschrieben hatte. Das Schreiben ist Teil seiner Selbst, Leben und Schreiben gehen ineinander über. Sein Traum ist es, im Schreiben zu versinken.
Vaterkonflikt und dreigeteilte Welt
Zentrales Thema ist der Konflikt mit dem autoritären Vater, von dem er sich zunehmend entfremdete. Er beschreibt das Familienoberhaupt als Tyrannen, der keine Widerrede oder andere Meinungen duldete und wegen dem er das Sprechen verlernte. Der Vater sei ein Mensch gewesen, der sich selber nicht an die Gebote hielt, die er für andere geltend machte. Für den jungen Kafka teilte sich die Welt in drei Teile: seine eigene Welt, die des Vaters und die Welt der übrigen Menschen. Dabei klagt er den Vater nicht nur an, sondern rechtfertigt und verteidigt sich auch. Bis heute ist allerdings umstritten, ob das Werk wörtlich und autobiografisch zu verstehen beziehungsweise inwiefern es literarisch übertrieben oder gar fiktional ist. Brief an den Vater gilt nichtsdestotrotz als Schlüssel zum Werk von Kafka, der im Juni 1924 im Alter von nur 41 Jahren an Tuberkulose starb. Viele seiner Texte hat er weder vollendet noch veröffentlicht. Den Brief an den Vater schrieb er fünf Jahre vor seinem Tod, auf dem Höhepunkt seines literarischen Schaffens. Das Manuskript enthielt über 100 Seiten. Den Brief hat er nie abgeschickt.

Komplexes Seelenleben
In seinen zahlreichen Briefen und Tagebüchern thematisiert Kafka allerdings nicht nur den Vaterkonflikt, sondern analysiert und reflektiert auch sein eigenes Leben, sein Schreiben, das “Missverhältnis der Ehe“ sowie das Judentum. Doch bei all seinen Themen “stand doch immer eine Frau am Briefhorizont“: Auch bei Brief an den Vater wird angenommen, dass der Ursprung in einer Auseinandersetzung mit seinen Eltern bezüglich der geplanten Hochzeit mit Julie Wohryzek, einer Sekretärin aus Prag, lag. Im Stück wird hier geschickt übergeleitet zu Kafkas Briefen an Felice Bauer, mit welcher er zweimal verlobt und wieder getrennt war und über fünf Jahre lang einen Briefverkehr pflegte. Auch diese Briefe sind Zeugnis seines wankelmütigen Wesens. Im einen Moment will er Felice dringend treffen, dann wieder zögert er es mit allerlei Ausreden hinaus. Schreibt sie nicht sofort zurück, bricht er in Panik aus. Ein ständiges Hin und Her, getrieben von Verunsicherung und Zerrissenheit zwischen Angst und Sehnsucht.

Vielfältige Inszenierung
Barbara Weber inszeniert Kafkas Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion sehr unterhaltsam, indem sie der Tragik seines Wesens auch einige humorvolle Aspekte abgewinnt. Abwechslungsreich wird das Stück durch das Vermischen und Verknüpfen verschiedener Texte Kafkas, der Herstellung biographischer Bezüge sowie Analysen und Deutungen Dritter. Manchmal lässt Weber Kafka selber sprechen (abwechselnd: Thomas Müller, Malte Sundermann, Sigi Terpoorten), manchmal lesen die drei sich gegenseitig vor, diskutieren, analysieren oder kommentieren seine Texte. Damit bringt Weber die komplexen Texte dem Zuschauer ein bedeutendes Stück näher.
Weitere Vorstellungen: 25. Mai, 3./4./5./6. Juni
Mit: Thomas Müller, Malte Sundermann, Sigi Terpoorten
Regie: Barbara Weber
Bühne: Sara Giancane
Kostüme: Madlaina Peer
Musik: Knut Jensen
Dramaturgie: Britta Kampert
Dauer: 1 h 30 Minuten
Im Netz
www.theateramneumarkt.ch