NIFFF 2010 – Kritik zu „Enter the Void“

Wenn „void“ halt wirklich „leer“ bedeutet

NIFFF 2010 – Enter the Void

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Gaspar Noés „Enter the Void“ ist jene Art Film, vor dem man sich als Kritiker eigentlich verstecken möchte – besonders, wenn er einem nicht gefällt. Der Film gehört zum Innovativsten, was das europäische Kinos in den letzten Jahren hervorgebracht hat: Er erzählt den Tod und die Irrfahrt der Seele bis zur Wiedergeburt, und dies konsequent aus der Perspektive dieser Seele. Woher also kommt das Stimmchen, das davor warnt, diesen Film ein Meisterwerk zu nennen?

Von Lukas Hunziker.

Alles beginnt in einer kleinen Wohnung in Tokio, in welcher Oscar mit seiner jüngeren Schwester Linda wohnt. Diese ist vor Kurzem von Montreal zu ihm gezogen und arbeitet nun als Stripperin in einem Nachtclub, während Oscar sich mit kleineren Drogengeschäften über Wasser hält. Nachdem Linda zur Arbeit gegangen ist, gibt sich Oscar kurz seiner Lieblingsdroge, Dimethyltryptamin, hin, bevor er von seinem Kumpel Alex abgeholt wird und die beiden durch das nächtliche Tokio wandern. Ihre erste Station ist das „Void“, ein Club, in welchem Oscar einem Bekannten Drogen vorbeibringen soll. Doch das Treffen entpuppt sich als Falle, die Drogenpolizei stürmt den Club und erschiesst Oscar, als dieser sich auf der Toilette versteckt und behauptet bewaffnet zu sein.

Der Tod als ultimativer Trip

Bis zu seinem Tod erlebt man als Zuschauer die Handlung aus der Perspektive Oscars, als scheinbar schnittlose, minutenlange Kamerafahrt. Mit Oscars Tod verändert sich nur die Perspektive: Die Kamera schaut von nun an – mit wenigen Ausnahmen bis zum Ende des Films – von oben auf das Geschehen herab. Sie zeigt Linda, welche die Nachricht vom Tod ihres Bruders als Voicemail bekommt, währenddem sie mit ihrem Chef schläft, sie zeigt Alex, der vor der Polizei geflüchtet und untergetaucht ist, und sie zeigt Erlebnisse aus Oscars bisherigem Leben, wie z.B. den traumatischen Autounfall, bei welchem seine Eltern ums Leben kamen.


 

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„Enter the Void“ ist Gaspar Noés Versuch, das im Tibetanischen Totenbuch beschriebene Stadium zwischen Tod und Wiedergeburt zu verfilmen und dabei die Handlung komplett aus der „Ich-Perspektive“ zu erzählen – ein ambitioniertes und gewagtes Experiment, für welches allein man ihn bewundern darf. Tatsächlich sehen wir die Hauptperson während 160 Minuten nur ein einziges Mal von vorne, dann nämlich, wenn er vor dem Spiegel steht. Genauso wie Oscars Seele schwebt auch die Kamera unruhig und nie stillstehend über dem Geschehen, geht durch Wände und beobachtet die anderen Figuren mal aus der Nähe und mal aus der Ferne. Die erste halbe Stunde lang sind diese Kamerafahrten ein optischer Hochgenuss, der einen die Zeit vergessen lässt.

Irgendwann jedoch macht sich das Zeitgefühl wieder bemerkbar, und gibt einen das Gefühl, jetzt doch schon verdammt lange in diesem Kino zu sitzen. Grund dafür ist, dass man irgendwann einmal das Muster erkennt, nach welchem die Kamera sich bewegt, und ab diesem Moment findet man mehr Spass daran, herauszufinden, durch welches Schlupfloch die Kamera den nächsten Raum verlässt, als der Handlung zu folgen. So faszinierend die Umsetzung von Oscars Todesodyssee ist, sie dauert zu lange – eine erste grosse Schwäche des Films, über welche sich fast alle Kritiker einig sind. Vor allem wenn man gegen Schluss gefühlte 20 Minuten über den verschiedenen Räumen eines „Love Hotels“ schwebt, in welchem in diversen Stellungen gevögelt wird, beginn man oft und öfters auf die Uhr zu schauen und wünscht sich, beim eigenen Ableben dann bitte die FSK-6 Version dieses Todestrips zu bekommen.

Psychedelische Tripbilder und Vagina-Innenansichten

Doch die „Länge“ ist nicht das Einzige, was an „Enter the Void“ stört, sondern auch dass der Film eine schlussendlich doch relativ banale Story so ungeheuer episch überhöht. Die Geschichte der beiden Geschwister, die ihre Eltern verloren haben und sich nun mit Strippen und Dealen durchs Leben schlagen, beeindruckt unter dem Strich ganz einfach nicht besonders. Mit anderen Worten, wäre der Film visuell nicht so bemerkenswert, bliebe eine Story, die das Zeug zu einem guten Fernsehfilm hätte – aber nicht zu mehr. Üble Geschichten über Dealer, psychedelische Drogentrips und expliziter Sex (peinlicher Höhepunkt ist eine Vagina-Innenaufnahme eines Samergusses) machen noch kein Meisterwerk, und lassen vermuten, dass diese Leere („void“), in welche wir eintreten, kein so interessanter Ort ist, wie der Film uns weiszumachen versucht.

„Enter the Void“ ist genauso zu empfehlen wie nicht zu empfehlen. Wem Augenfutter besser schmeckt als Gehirnfutter, der wage den 160-Minuten-Trip. Wer hingegen die Welt nicht gern von oben herab anschaut, gehe lieber selber nach Tokio.


Im Netz
Trailer zu „Enter the Void“


Lukas Hunziker

Lukas Hunziker ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch. In seinem Garten stehen drei Bäume, in seinem Treppenhaus ein Katzenbaum. Er schreibt seit 2007 für nahaufnahmen.ch.

4 thoughts on “NIFFF 2010 – Kritik zu „Enter the Void“

  • 10.01.2011 um 10:13 Uhr
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    Fail Zusammenfassung… 2001 Space Odyssey war wohl auch langweilig mit einer banalen Story was?

  • 15.01.2011 um 09:35 Uhr
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    Ne, „2001 Space Odyssey“ ist ein Klasse Film und hat überhaupt keine banale Story. Die Story von „Enter the Void“ ist verglichen mit dem üblichen Hollywoodkäse auch nicht banal – aber sie tut so, als hätte der Film irgendetwas Interessantes zu sagen – und eben das hat er nicht. Die Story ist und bleibt meiner Meinung nach eine Entschuldigung, visuell zu experimentieren.

  • 24.01.2011 um 22:52 Uhr
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    Drogen und das tibetanische Buch der Toten kann man für sich persönlich schon als uninteressant und sozusagen „unnötig“ betrachen. Ist jedem selbst überlassen inwiefern und wieweit man in sich selbst gehen will.

    Ob man die Story nun gut findet oder nicht ist auch nicht die Hauptsache eines Filmes. Denn was ein Film bewegt spielt nie auf der Leinwand statt und gerade dieser Film kann im Betrachter so einiges an Ängsten auslösen. Einem sozusagen einen Spiegel vor die Augen halten. So mancher Film wurde auch nicht gedreht um dem analytischen Geist zu gefallen…

    Filme wie Koyaanisqatsi oder We The Living kommen auch ohne Story aus und können trotzdem mächtig was bewegen.

  • 27.01.2011 um 07:29 Uhr
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    Da bin ich absolut einverstanden, Koyaanisqatsi fand ich auch toll! Viele Filme brauchen keine Story und sind trotzdem toll. „Enter the Void“ fand ich trotzdem langweilig und ausser der visuellen Idee fand ich nichts an dem Film, das ihn zu etwas Besonderem machte. Ich bin mir aber bewusst, dass das ein sehr subjektiver Eindruck ist, und bin wie immer froh, dass es andere Meinungen dazu gibt. Meine Feindseeligkeit gegenüber dem Film rührt auch daher, dass es am NIFFF 2010, in dessen Rahmen ich „Enter the Void“ besprochten hatte, einfach klar Interessantere Filme gab (allen voran „Transfer“), welche aber leer ausgingen, da sich die Jury meiner Meinung nach vom Möchtegern-Tiefsinn Gaspar Noés täuschen liessen.

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