„Die verrückten Jahre“ von John Glassco
Die ganze Stadt eine einzige Party
„Die verrückten Jahre“ von John Glassco
Paris, Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts: Ein junger Kanadier hat sich in der Stadt niedergelassen, um die schönen Seiten des Lebens in vollen Zügen zu geniessen und dabei möglichst viele prominente Künstler kennen zu lernen. „Die verrückten Jahre“ ist ein Schelmenstück von einem Autor, der den Leser gerne an der Nase herumführt.
Von Stephan Sigg.
Hätte Paris Hilton vor hundert Jahren gelebt, hätte sie neben diesen beiden Herren etwas blass ausgesehen: Sie sind erst achtzehn, aber trotzdem haben es John Glassco (1909 – 1981) und sein Freund Graeme faustdick hinter den Ohren, als sie nach Europa reisen. Ihr Ziel: Das literarische Hollywood des beginnenden 20. Jahrhunderts unsicher machen und dabei kein Abenteuer versäumen. In Anbetracht der vielen Vergnügen, die Paris nachts bietet, sind die eigenen schriftstellerischen Ambitionen schnell vergessen. Noch ist der Börsencrash in weiter Ferne, es wird gefeiert, als wäre man nur dafür geboren. So ziehen die beiden jungen Männer von Bar zu Bar, von Party zu Party und lernen die Créme de la Créme der Pariser Künstlerszene kennen – darunter auch Hemingway und Joyce.
Nur die halbe Wahrheit
„Die verrückten Jahre“ ist ein Schelmenroman und das im doppelten Sinn: Das Buch erzählt die Geschichte von einem Schelm und ist gleichzeitig das Werk eines Schlitzohrs. Wie Louis Begley im Vorwort schreibt, steht inzwischen fest, dass Glasscos Roman nicht wie dieser behauptete, unmittelbar nach seiner Zeit in Paris verfasst wurde. Erst bei seinem Pariser Aufenthalt Mitte der 60er-Jahre – also rund vierzig Jahre später – soll Glassco seinen Roman zu Papier gebracht haben. Wir haben es hier also nicht mit den authentischen, unzensierten Schilderungen eines jungen Mannes, sondern mit dem Werk eines Literaten zu tun. Wer das Paris von damals Hundertprozent authentisch erleben will, ist mit anderen Romane aus jener Zeit deshalb besser bedient.
Faible für Name-Dropping
Der Leser braucht eine Weile, bis er sich mit dem Ich-Erzähler, der identisch mit dem Autor ist, anfreundet. Zunächst werden ihm inflationär Decknamen bekannter Autoren um die Ohren geknallt (ein Glossar am Schluss klärt, hinter welchem Namen sich welcher Autor verbirgt). Beinahe entsteht der Eindruck, der Autor beschränke sich in seinem Roman auf Name-Dropping. An Selbstbewusstsein mangelt es auf jeden Fall nicht. Der Autor zieht die literarische Avantgarde durch den Kakao, ohne einmal mit der Wimper zu zucken. Nicht nur ihr Äusseres, sondern auch ihr Werk fällt Glasscos spitzer Feder zum Opfer.
Das, was den Roman ausmacht, ist wohl gerade sein Alter. Aus heutiger Sicht hat die Geschichte Charme, denn der damalige Sitten- und Moralkodex bringt einen doch immer wieder zum Schmunzeln. Der Autor bewahrt stets Anstand und verletzt kein Tabu. Sobald es eindeutig wird und sich Charlotte Roche und Kollegen heute begeistert auf die Details stürzen würden, macht die Geschichte sofort einen eleganten inhaltlichen Sprung. Wird auch das Pariser Nachtleben mit all seinen Eskapaden geschildert, verzichtete der Autor doch darauf, den damaligen Lesern (oder den Lesern der 60er-Jahre) die Schamesröte ins Gesicht zu treiben.
Hanser
334 Seiten, ca. 37.50 Franken
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