„Durch den Wind“ von Annika Reich
Wann fängt das Leben an?
„Durch den Wind“ von Annika Reich
Drei Frauen, Mitte 30, alle leben in Berlin, alle stecken fest und warten darauf, dass das „richtige Leben“ endlich losgeht. Annika Reich hat einen aktuellen Roman geschrieben über die Qual der Wahl und Verzagtheit als Lebensbremsklotz.
Von Stephan Sigg.
Nein, schlecht geht es eigentlich keiner von ihnen: Friederike hat einen coolen Laden, Siri hat Ehemann und Kind und die aus Japan stammende Yoko einen tollen Job als Architektin. Trotzdem scheint bei allen drei die Pause-Taste betätigt worden zu sein. So wie es in den letzten Jahren war, kann es nicht weitergehen. Hiess es vor kurzem noch „Everything goes“, schlagen sich die drei Frauen nun mit der grossen Frage herum, ob sie wirklich in der richtigen Richtung unterwegs sind.
Kein cooles Grossstadtleben
Was zunächst wie ein typischer Frauenroman daher kommt, entpuppt sich bald als Roman über das „Endlich-Erwachsenwerden“. Auch wenn die Protagonisten Frauen sind, kann „Durch den Wind“ als Bestandesaufnahme vom Lifestyle beider Geschlechter gesehen werden. Die 1973 geborene Annika Reich ist mit ihrer Geschichte weit entfernt von Hippness und coolem Grosstadtleben. Sie hat einen poetischen Roman geschrieben, der zwischendurch meditative Formen annimmt und von der Erzählweise her nicht weit entfernt vom Film „Lost in Translation“ ist. Dieser spielt in „Durch den Wind“ auch eine nicht unbedeutende Rolle.
In Reichs Roman geht es um Hoffnung und Enttäuschungen. Und zwar solche, über die man nicht mit einem Glas Prosecco hinwegkommt, sondern die existentielle Fragen aufwerfen und einen immer wieder nach dem Ziel fragen lassen. Fast scheint es, als hätten es die drei Protagonistinnen mit einer neuen, modernen Midlife-Crisis zu tun – der Angst, das Leben könnte falsch gelebt oder gar verpasst worden sein. Aber eben: Wer sich zu sehr den Kopf zerbricht, kommt nicht vorwärts. Und so ist es bei den drei Frauen. Die Verzagtheit hat zu einer totalen Lebenslähmung geführt.
Aufgabe bestanden
Manchmal würde man den Protagonistinnen gerne einen Tritt in den Allerwertesten geben und sie wieder auf die Fahrbahn schieben. Nicht, dass der Roman nicht vom Fleck kommen würde: Der Wechsel zwischen den verschiedenen Frauencharakteren, die vielen Ereignisse, der Puls von Berlins City und auch der Sprung nach Japan sorgen für Abwechslung und halten die Handlung am Laufen. Aber die Verzagtheit schreit manchmal einfach danach, durchbrochen zu werden. Denn vor lauter Denken laufen Siri, Yoko und vor allem Alison Gefahr, den Bezug zur Realität zu verlieren. Dies wird besonders deutlich, als letztere Hals über Kopf nach Japan reist, um ihren Freund Viktor zu suchen. Da sitzt die Suchende in U-Bahnen und Bars rum und glaubt sich mit einer Doppelgängerin konfrontiert. Es wird surreal und der Leser etwas verwirrt. Was nicht nötig gewesen wäre. Denn Reich hat schon vorher ihre Aufgabe meisterhaft bestanden: den Leser zum Nachdenken über das Leben und dessen Ziel anzuregen.
Hanser
330 Seiten, CHF 33.25