Steve Toltz: „Vatermord und andere Familienvergnügen“

Der Mensch ist nur einzeln zu ertragen

Steve Toltz: „Vatermord und andere Familienvergnügen“

In seinem ersten Roman berichtet uns Steve Toltz aus dem Leben von Martin Dean und seinem Sohn Jasper, von Striplokalen, Nervenkliniken, Gesichtsoperationen, Festnahmen und einem Labyrinth, und erzählt so eine etwas andere Familiengeschichte.

Von Lisa Letnansky.

vatermordundanderefamilienvergnügen„Wie war ihr Bruder eigentlich als Kind?“ Diese Frage hasst Martin Dean mehr als alles andere. Der Roman beginnt damit, dass Martin seinem Sohn Jasper seine Kindheitsgeschichte und die seines Bruders erzählt. Seit er denken kann, steht er im Schatten des charismatischen Terry, der die Herzen der Australier trotz seines zweifelhaften Lebenswandels im Sturm erobert hat. Mit fünf Jahren litt Martin an einer schweren Krankheit, durch welche er für vier Jahre und vier Monate ins Koma fiel; als er wieder aufwachte, hatte er einen vierjährigen Bruder, der schon jetzt in fast allem besser war als er selbst. Als begnadeter Sportler wird Terry während seiner Kindheit und Jugend zur Sensation des kleinen Städtchens und wie ein Prominenter gefeiert.

Philosophie und Sport

Martin selbst bleibt sein ganzes Leben lang schwächlich und introvertiert. Unzählige Bücher verschlingend grübelt er stundenlang über philosophische Fragen und reduziert sich so auf seinen Geist, während sein Bruder das Körperliche und den Sport zur seiner Religion erklärt. Martin scheint mit seinem kleinen Bruder nichts gemeinsam zu haben, und trotzdem beeinflusst er dessen Leben nachhaltig – wenn auch meist unabsichtlich. Alles beginnt damit, dass Terry seinen hilflosen grossen Bruder von den Schulschlägern beschützen will und dabei so am Bein verletzt wird, dass er nie wieder Sport treiben kann. Seine dadurch aufgestaute Energie baut er schliesslich durch kleinkriminelle Machenschaften ab, wodurch sich die Bewunderung seiner Mitbürger rasch in Verachtung wandelt. Während dieser Zeit installiert Martin am Rathaus seiner Heimatstadt eine „Vorschlagsbox“, in welche alle Bürger Vorschläge an den Bürgermeister einwerfen können, die das Leben in der Stadt verbessern sollen. Was anfangs ganz gut funktioniert, wird bald zur „Lästerbox“, bis einmal der Vorschlag angebracht wird, dass Terry zu seinem eigenen Schutz und zu dem der Bewohner der Stadt in eine Psychiatrie eingeliefert werden soll, wo er von seinen kriminellen Tendenzen geheilt würde.

Verbrecher und Wohltäter

Der Weg, den Terry durch die unbewusste Beeinflussung seines Bruders einschlägt, führt ihn schliesslich zu seinem Dasein als Serienmörder. Skrupellos, aber kreativ ermordet und verstümmelt er in ganz Australien unzählige korrupte Sportler, Trainer und Buchmacher, die seiner Religion, dem Sport (der auch die Religion des grössten Teils der Landesbevölkerung zu sein scheint) Schaden zufügen. Terry wird zum Outcast, der von ganz Australien gleichzeitig gejagt und gefeiert wird.

Seit damals sind zu Beginn des Romans schon Jahrzehnte vergangen, aber die Vergangenheit, „ein inoperabler Tumor, dessen Metastasen bis in die Gegenwart reichen“, lassen Martin nicht in Ruhe. Endlich möchte er aus dem Windschatten seines Bruders, des „grössten Verbrechers Australiens“, treten, und wie könnte er das besser anstellen, als durch die Verkörperung des absoluten Gegensatzes: Martin will der grösste Wohltäter Australiens werden. Dabei soll ihm sein Sohn Jasper helfen, der eigentlich schon lange genug von seinem neurotischen Vater hat. Genau wie sein Vater aus dem Bann seiner Familie ausbrechen will, möchte Jasper endlich dem Dunstkreis seines Vaters entfliehen und ein ganz normales Leben führen: „Ich dachte an normale Familien, die normale Probleme haben wie Alkoholismus, Spielsucht, häusliche Gewalt und Drogen. Ich beneidete sie.“

Helden des unalltäglichen Alltags

Einzeln betrachtet scheinen alle Hauptfiguren zwar etwas seltsame, aber durchaus sympathische und angenehme Zeitgenossen zu sein. Wenn sie aber zusammen sind, gleichen sie einem brodelnden Hexenkessel, die Martins Credo zu bestätigen scheinen: „Der Mensch ist nur einzeln zu ertragen“. Die vollkommen gegensätzlichen Charakterzüge der Figuren dieser Geschichte bringen sie immer wieder in abwechslungsreiche, absolut irrwitzige Situationen, die dem Roman eine Schnelligkeit und Spannung verleihen, die den Leser in seinen Bann ziehen. Toltz schaffte für jeden der Charaktere, ob Verbrecher, Wohltäter oder Sonderling, eine eigene, charismatische Aura, die ein anderes Gefühl als Sympathie oder Wohlwollen nicht zuzulassen scheint. „Vatermord und andere Familienvergnügen“ ist ein Buch voller Helden des Alltags, auch wenn dieser Alltag auf den ersten Blick nicht gerade alltäglich scheint.

Das einzige, was man an Toltz’ Erstling bemängeln könnte, ist dem Autor selbst nicht vorzuwerfen. Vor allem in der zweiten Hälfte des Romans hätte man ihm einen etwas aufmerksameren Lektor gewünscht; die Syntax- und Grammatikfehler, die sich auf einigen Seiten nur so zu häufen scheinen, sind wohl das Ergebnis einer etwas achtlosen Übersetzung – die jedoch sonst, im Grossen und Ganzen, der Leichtigkeit und Heiterkeit von Toltz’ Sprache überzeugend gerecht wird.

DVA
107 Seiten, ca. CHF 39.90

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