Jandy Nelson: „Über mir der Himmel“

Ein Beistellpony wird erwachsen

Jandy Nelson: „Über mir der Himmel“ (Jugendbuch)

Jandy Nelsons „Über mir der Himmel“ ist ein Buch, das alle, die jemals einen geliebten Menschen verloren haben, alle, die sich jemals unsterblich verliebt haben, und alle, die Musik in ihren Adern pulsieren fühlen, begeistern, zum Lachen und zum Weinen bringen wird. So vielschichtig und sprachgewaltig war kaum je ein Debüt.

Von Sandra Despont.

uebermirderhimmelNach dem Tod ihrer Schwester Bailey kommt es der siebzehnjährigen Lennie Walker vor, „als hätte jemand den Horizont weggesaugt.“ Ihre eigene abgrundtiefe Traurigkeit findet sie in den mitleidigen Gesichtern gespiegelt, die ihr in der Schule begegnen. Vor ihrer besten Freundin Sarah, einer „begeisterungsfähigen Zynikerin“, distanziert sie sich, sie verbringt ihre Mittage in Bäumen und trinkt keinen Tee mehr mit ihrer Grossmutter. Und gleichzeitig, absurderweise, paradoxerweise verliebt sie sich Hals über Kopf in Joe Fontaine, dem breitest grinsendenden Horn-Trompeten-Gitarrenspieler, den man sich vorstellen kann. Die Folge: Gefühlschaos pur und eine harte, schmerzhafte und gleichzeitig befreiende Suche nach sich selbst.

„Judas, Brutus, Benedict Arnold und ich“

Mit heftiger Trauer und stürmischer Verliebtheit beginnt „Über mir der Himmel“. Herkömmliche pubertäre Stimmungschwankungen, auch die schon nicht ohne, werden potenziert. Kein Wunder, denn wie soll Lennie, die bisher im Schatten ihrer strahlenden Schwester gelebt und die Liebe allenfalls zwischen zwei Buchdeckeln akzeptabel gefunden hat, mit der Trauer um Bailey und der gleichzeitigen Verliebtheit zurechtkommen? Gehört es sich, ausgerechnet dann an Sex zu denken, wenn einem alle kondolieren? Gewiss nicht. Und ganz gewiss ist das Küssen des Freundes der verstorbenen Schwester inakzeptabelst. Trotzdem passiert das schon mal. Und schon ist das Gefühlswirrwarr noch durch eine hübsche Portion Schuldgefühle angereichert. Wie eine Verräterin fühlt sich Lennie und wer denkt, es könne nicht schlimmer kommen, täuscht sich.

Pyramiden für tote Käfer

So viel zur Ausgangslage. Wem das schon reichlich verzwackt vorkommt, hat recht, hat aber nicht mit Jandy Nelsons offenbar unerschöpflichem Ideenreichtum gerechnet. Nach und nach legt die Autorin weitere Schichten rund um Lennie frei. Da wäre die Abwesenheit der Mutter, die wegen ihres Unruhe-Gens ihre beiden Töchter zurückgelassen hat und in die weite Welt hinausgezogen ist. Nur aus Erzählungen Gramas kennen Bailey und Lennie ihre Mutter und lange dauert es, bis Lennie an den phantastischen Erzählungen Gramas zu zweifeln beginnt. Grama selbst, die Züchterin aphrodisiastischer Rosen, die Zaubererin des Gartens, gleitet  als verständnisvolle, gütige und warmherzige Frau durch das Buch, ohne dass Jandy Nelson sie ein langweiliges Grossmutterdasein führen lässt. Überhaupt gilt: Jandy Nelsons Figuren sind vieles, aber bestimmt nicht langweilig. Die tumultöse Bruderschar Fontaine sorgt ebenso für Unterhaltung wie der dauerkiffende Onkel Big mit seinen Versuchen, unter mysteriösen Pyramiden tote Käfer wieder zu erwecken. Ohne auf zwanghafte Pointensucherei oder künstliche Fröhlichkeit zurückzugreifen, wird so aus dem durchaus sehr ernsthaften Buch über Schmerz und Trauer auch ein Buch der Freude und des Lebens.

Doch ein Rennpferd?

Sie sei die Zweidimensionale in einer 3-D-Familie, ein Beistellpony sei sie, stellt Lennie einmal fest. Ein Beistellpony an der Seite eines Rennpferds. Doch was passiert mit dem Beistellpony, wenn das Rennpferd stirbt? Langsam entwickelt sich für Lennie aus diesem Gedanken und dessen Konsequenzen ein eigenes Selbstbewusstsein. Bei allem Schmerz über den Verlust ihrer Schwester, bei allen Schuldgefühlen ist es doch sie, die weiterleben und ihren Lebensweg finden muss, wie alle Jugendlichen. Diese Vermischung des herausgehobenen Schicksals Lennies mit den ganz normalen Sorgen und Nöten aller Jugendlicher ist es, was „Über mir der Himmel“ so zugänglich und faszinierend macht. Lennie ist speziell und doch ist sie wie alle Jugendlichen auf der Suche nach Antworten auf existentielle Fragen wie: Wer bin ich? Was macht mich zu etwas Eigenem, Besonderem? Wohin soll mein Leben gehen? Was kann ich überhaupt? Der Tod ihrer Schwester wird so zum Auslöser einer Entwicklung, während der Lennie aus dem Schatten ihrer Schwester heraustritt und erkennt, dass auch sie, das vermeintliche Beistellpferd, in Tat und Wahrheit ein Rennpferd ist.

Alles passt

Furios und energiegeladen ist die Sprache, die Jandy Nelson ihrer Protagonistin verleiht, souverän und stilsicher ist die Übersetzung Catrin Frischers. Die lennieschen Wortneuschöpfungen sind durchwegs gelungen und wirken kein bisschen gekünstelt. So könnte eine sprachbegabte Jugendliche sprechen, genau so rotzfrech, zwischen schonungsloser Schnoddrigkeit und lyrischer Empfindsamkeit pendelnd. Die Sprache trägt einen auch über jede sentimentale Passage hinweg und verhindert, dass die zahlreichen romantischen Szenen in Kitsch abgleiten. Und so ist „Über mir der Himmel“ ein Jugendbuch, bei dem einfach alles passt: Die Protagonistin ist nicht das normale brave Mädchen von nebenan, das wir schon in aberhunderten von Mädchenbüchern vorgesetzt bekommen haben, ihr Umfeld ist ebenso originell wie komplex, die Themen sind zwar nicht völlig neu, doch ausserordentlich gut und glaubhaft kombiniert, die Sprache ist sorgfältig und bewusst eingesetzt. Und das Wichtigste: Trotz aller Ernsthaftigkeit ist „Über mir der Himmel“ ein Roman, der nur so strotzt vor Humor und Lebensfreude.

Mit „Über mir der Himmel“ ist Jandy Nelson ein sorgfältig erdachtes, gekonnt durchkomponiertes, viel versprechendes Debüt gelungen. Ohne Bedenken, nur vielleicht mit der leisen Angst, dass die Autorin nicht noch einmal leisten kann, was in ihrem Erstling schon so gut gelungen ist, würde man jeden weiteren Roman Jandy Nelsons in den Einkaufskorb packen.


Titel: Über mir der Himmel
Autorin: Jandy Nelson
Übersetzerin: Catrin Frischer
Verlag: cbj
Seiten: 345

Richtpreis: CHF 27.50

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