Meg Rosoff: „Davon, frei zu sein“
Eine seltsame Art von Freiheit
Meg Rosoff: „Davon, frei zu sein“ (Jugendbuch)
So vielseitig wie Meg Rosoff ist kaum eine Jugendbuchautorin. Nach einem Ausflug in eine bedrohliche Zukunft („So lebe ich jetzt“), einem reizvollen Gedankenspiel samt imaginären Hunden („Was wäre wenn“) und einer Jugendfreundschaft in der Erinnerung eines 100-jährigen („Damals, das Meer“), nimmt sie uns mit „Davon, frei zu sein“ nun ins 19. Jahrhundert. Das Cover ziert ein Mädchen auf einem weissen Pferd. Wer aber nun historisch angehauchten Schmöker-Kitsch erwartet, liegt falsch. Denn Meg Rosoff schreibt so schöne wie ernst zu nehmende Bücher.
Von Sandra Despont.
„Davon, frei zu sein“ ist erst Meg Rosoffs viertes Werk, doch bereits ist klar: Hier schreibt eine der vielseitigsten und ernsthaftesten Jugendbuchautorinnen unserer Zeit. Rosoff hat ein unglaubliches Talent, ihre Leser in fremde Welten zu entführen. In ihrem neuesten Roman ist diese fremde Welt das England in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Flucht vor einem Dasein als schwer arbeitende Gebärmaschine
Am Tag ihrer Hochzeit stiehlt sich Pell mitten in der Nacht davon. Sie nimmt nur wenig mit: ein paar Nahrungsmittel, ihr Pferd Jack, ihren stummen Bruder Bean, der sich wie selbstverständlich der älteren Schwester anschliesst. Ihr Verlobter Birdie, so stellt sich Pell vor, wird wohl nach kurzer Zeit mit ihrer Schwester Lou anbandeln, die viel mehr für die Ehe geschaffen scheint. Pell selbst kann sich nicht dazu überwinden, fortan nicht nur, wie sie es sich eh schon gewohnt ist, sommers wie winters Schwerstarbeit zu leisten, um die Familie knapp am Leben zu erhalten, sondern auch noch ein Kind nach dem anderen aus sich herauszupressen wie ihre Mutter. Doch die Hoffnung, auf dem Pferdemarkt von Salisbury eine Anstellung zu finden, zerschlägt sich bald. Niemand stellt ein Mädchen ein, schon gar kein fremdes, schon gar kein erbärmlich aussendes, schon gar keins, das ein stummes Kind mit sich rumschleppt. Pells Arbeitswille, Pells Talent mit Pferden umzugehen, sie sogar fachmännisch zu beschlagen, nützt ihr in einer harten Welt, in der jeder auf seine Art ums Überleben kämpft, nicht viel. Und dann verschwinden auch noch Jack und Bean.
Die Freiheit zu frieren
Freiheit bedeutet für Pell vor allem eins: Indem sie ihre Familie verlässt, ist sie fortan frei – „frei und hungrig, frei und frierend, frei und nass, frei und allein“. Tag für Tag bewegt sie sich auf der Suche nach Arbeit, einer Kleinigkeit zu essen, ihrem Pferd und ihrem Bruder in der Landschaft Südwestenglands auf endlosen Landstrassen fort, trotzt Kälte, Regen und den Gefahren, die auf eine unbegleitete junge Frau hinter jeder Ecke lauern. Sie erfährt Zurückweisungen und Verachtung, findet aber auch Freundlichkeit, Mitleid und Liebe an Orten, an denen sie diese zuletzt erwartet hätte.
Wer nun denkt, „Davon, frei zu sein“, klinge nach Abenteuer, einer romantischen Suche nach Liebe oder einer gemütlichen Reise in die Vergangenheit, liegt falsch. Die Handlung ist zwar reichhaltig, doch Fans reiner Spannungsliteratur finden hier nicht ihr Glück. Die Handlung ist wie das Leben: unberechenbar, ungerecht, von einer eigenen, uneinsehbaren Logik bestimmt. Wer denkt, Pell finde bestimmt ihren Traumprinzen und werde dann glücklich in der Liebe, irrt. Die Hauptfigur ist zwar ein sympathisches junges Mädchen, doch Liebhaberinnen von romantischer Mädchenliteratur werden nicht auf ihre Rechnung kommen. Zu Pells Zeiten war romantische Liebe keine ernsthafte Möglichkeit. Wer darauf hofft, durch diesen Roman einen umfassenden Einblick ins 19. Jahrhundert zu erhalten, wird enttäuscht sein. Die Epoche des 19. Jahrhunderts ist zwar akkurat geschildert, doch Anhänger des historischen Romans werden hier nicht bedient. Es fehlt an Opulenz, an genüsslicher Schilderung vergangener Welten, an einer systematischen Abarbeitung an verschiedenen Lebenswelten.
Fremd ist uns die Welt des 19. Jahrhunderts
Als Leserin schliesst man die selbstbewusste, freiheitsliebende Pell sofort ins Herz, doch wirklich nahe kommt man ihr nie. Dafür lässt uns Meg Rosoff zu oft im Dunkeln darüber, was ihre Protagonistin zum Handeln treibt, welches ihre Beweggründe sind. Meist erlaubt die Autorin nur in kurzen Passagen einen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt ihrer Figuren. Eine Schwäche des Romans ist dies jedoch nicht, im Gegenteil: Indem nicht alles offenbart wird, indem das Fremde nicht enträtselt, das Geheimnisvolle nicht aufgeklärt, das Dunkle nicht gnadenlos ans Licht gezerrt wird, gewinnt „Davon, frei zu sein“ an Tiefe. Denn fremd ist uns die Welt des 19. Jahrhunderts, als Ehe und Mutterschaft für jede Frau nahezu unausweichliches Schicksal war. Fremd ist uns die bittere Armut, in der die meisten Menschen lebten, und die harte Arbeit, die sie leisteten, um knapp über die Runden zu kommen. Fremd ist uns die Härte einer jungen Frau wie Pell, deren Herz von romantischen Gefühlen bis zuletzt fast gänzlich unangetastet bleibt. Rosoff löst keine Widersprüche auf, mildert keine Härten ab, ein hollywoodeskes Happy-End liegt ihr fern. Wer diese Be-Fremdung aber aushält, wird reich belohnt.
Unsentimentale Geschichte für denkende Leserinnen
Gerade die Widerspenstigkeit der Lektüre führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Figuren, denen wir begegnen. Wie auch schon Rosoffs vorherige Jugendbücher ist „Davon, frei zu sein“ kein Schmöker, sondern ein ernst zu nehmendes Werk, das nicht nur auf das Mitfühlen, sondern auch auf das Mitdenken seiner Leserinnen und Leser angewiesen ist. Unsentimental, manchmal sperrig sind Geschichte, Figuren und Sprache. Sicher hat „Davon, frei zu sein“ damit nicht das Zeug zur Massenware. In grossen Bücherstapeln direkt neben „Harry Potter“ wird man die Titel Meg Rosoffs vergebens suchen. Doch wer diese Autorin entdeckt, und das sind nicht nur Jugendliche, wie die lange Verweildauer ihres Erstlings „So lebe ich jetzt“ auf Erwachsenen-Besteller-Listen zeigt, wird durch nachdenkliche, sprachlich wunderschön und behutsam gestaltete Texte belohnt, die einen nachhaltiger bewegen als herkömmliches Mädchenträumefutter.
Titel: Davon, frei zu sein
Autorin: Meg Rosoff
Übersetzerin: Brigitte Jakobeit
Verlag: FJB
Seiten: 240
Richtpreis: CHF 25.50