Wie YouTube & Co. unsere Weltsicht verändern

Scheinwahrheiten im Internet

Wie YouTube & Co. unsere Weltsicht verändern

Schweine, Grippe, Mexiko
Auf YouTube wird suggeriert: Mexikaner trugen die Schuld am Ausbruch der Schweinegrippe

Der Normalverbraucher des 21. Jahrhunderts bezieht einen Grossteil seiner Informationen aus dem Internet. Vieles, was dort zu finden ist, wurde aber von Nutzern ohne fundiertes Fachwissen geschrieben und entspricht teilweise nicht der Wahrheit. Wie verzerrt ist unser Weltbild durch den sorglosen Konsum minderwertiger Informationen aus dem Internet?

Von Sibylle Waltert

Heutige Jugendliche beziehen ihre Informationen zum Geschehen in der Welt nicht mehr aus Zeitungen und Büchern, sondern fast ausschliesslich aus dem Internet. Facebook, YouTube, Myspace, Twitter und verschiedene Blogs gehören zu den täglichen Informationsquellen und wenn zuverlässige Fakten benötigt werden, ist Wikipedia stets zur Stelle. Dies brachte Beau Basel Beaudoin, Professorin für Medienanalyse am Columbia College in Chicago in Erfahrung. Weiterhin untersuchte sie, welche Bilder anderer Länder und ihrer Bewohner sich in den Köpfen der Heranwachsenden festsetzen.

Schweinegrippe als Terroranschlag
Beaudoin beschreibt in ihrem Artikel einen beispielhaften Vorfall in einem Kurs über „Kultur, Rasse und Medien“ im Frühling 2009. Unter ihren Studenten herrschte eine Aufregung über den Ausbruch der Schweinegrippe. Ausgelöst wurde die Hysterie durch einen YouTube-Beitrag über illegale mexikanische Immigranten, die für den Ausbruch einer weltweiten Epidemie verantwortlich gemacht werden. In diesem Video berichtet der Radiomoderator Michael Savage über die Gefahren der Schweinegrippe und stellt die Frage in den Raum, ob es sich beim Ausbruch der Epidemie um eine terroristische Aktion handelt. Seine Hetzrede unterstreicht Martin Weinfeld, ein offensichtlicher Fan von Savages Radiosendung, durch Bilder von dunkelhäutigen Menschen, die Atemschutzmasken tragen. Diese Bilder haben zwar keinen direkten Zusammenhang mit Savages Aussagen, werden aber automatisch mit dem Gehörten verknüpft und suggerieren, das mexikanische Volk sei eine Bedrohung für die Vereinigten Staaten. Die Frage, ob sie diesem Bericht Glauben schenken, bejahten die Studenten. Die allgemeine Meinung: Da YouTube strenge Richtlinien habe, welche Filme veröffentlicht werden dürfen und welche nicht, müsse das, was auf der Seite zu finden ist, reale Fakten enthalten.

Solange es niemanden stört…
Die Richtlinien von YouTube unterstützen die Redefreiheit, verbieten aber „Hassreden, die eine Gruppe aufgrund von Rasse oder ethnischer Herkunft, Religion, Behinderung, Geschlecht, Alter, Veteranenstatus oder sexueller Orientierung/ Geschlechtsidentität angreifen oder erniedrigen“.
Obwohl das Video von Michael Savage ziemlich treffend der Definition einer Hassrede entspricht, ist es bis heute noch auf YouTube abrufbar. Die Frage ist hier also, wie gut die Kontrolle über die veröffentlichten Beiträge bei YouTube funktioniert. Und selbst wenn diese einwandfrei ablaufen sollte, bleibt doch unklar, wie effizient die Kontrolle ist: Schliesslich kann jeder ein diskriminierendes Video bei YouTube aufschalten. Dieses bleibt so lange Millionen von Menschen offen zur Verfügung, bis sich jemand daran stört, es meldet und YouTube es schliesslich löscht..

…muss es wahr sein
Sehen wir uns ein lehrreiches und professionell aufgemachtes Video auf YouTube an, gehen wir intuitiv davon aus, dass die darin enthaltenen Informationen korrekt sind. Auch Artikel auf Wikipedia werden immer häufiger als valide Quellen gesehen. Der Normalverbraucher versteht das dort Gelesene kritiklos als Tatsache. Damit ist alles, was auf YouTube und Internetseiten mit ähnlichen Richtlinien zu sehen, zu hören und zu lesen ist, so lange akzeptabel und wahr, bis jemand das Gegenteil behauptet. Fakten müssen nicht belegt werden, sondern entsprechen der Wahrheit solange sie niemand widerlegt. Somit entsteht ein Schlupfloch für Scheinwahrheiten, das schwierig zu entdecken ist.

Scheinwahrheiten in allen Medien
Beaudoins Studie über Medienkonsumverhalten und dessen Auswirkungen bezieht sich explizit auf Jugendliche. Erwachsene sind aber auf keinen Fall fein raus. Auch das Weltbild der älteren Generationen ist durch die Medien verzerrt. Bereits lange vor dem Internet wurden Medien dazu benutzt, Meinungen zu beeinflussen. Und auch Konsumenten mit einem kritischen Auge lassen sich von Medien gelegentlich in die Irre führen. So setzen sich Unwahrheiten in unseren Köpfen fest, ohne dass wir es bemerken. Dies betrifft nicht nur private Konsumenten, sondern auch den Journalismus. Hierzu machte der junge Soziologie-Student Shane Fitzgerald aus Irland ein Experiment: Kurz nach dem Tod des berühmten Komponisten Maurice Jarre fügte er dessen Wikipedia-Artikel ein gefälschtes Zitat bei. Obwohl dieses nach kurzer Zeit von der Administration gelöscht wurde, verbreitete sich das Zitat in Windeseile auf verschiedenen Blogs und in Zeitungen der ganzen Welt. Wenn er sich nicht den Medien gestellt und das Missverständnis aufgeklärt hätte, wäre das Zitat möglicherweise in die Geschichte eingegangen und als Fakt behandelt worden, so die Befürchtung des Studenten. Fitzgeralds Fazit: Wikipedia hat den Test bestanden, der Journalismus ist durchgefallen.

Literatur zum Thema:

Beau Basel Beaudoin; How the Internet Influences our Worldview of Ethnic Representation; The International Journal of Diversity in Organisations, Communities and Nations 2009, Vol. 9, 4.

Im Netz:

YouTube-Video: Michael Savage über mexikanische Immigranten und die Schweinegrippe

MSNBC-Online: Student hoaxes world’s media on Wikipedia

NZZ-Artikel: Das Wissen der Welt am Bildschirm abrufen

Heise-Artikel: Wikipedia und das vorläufige Wissen

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