John Boyne: „Das Haus zur besonderen Verwendung“
Liebesmärchen in bester russischer Erzähltradition
John Boyne: „Das Haus zur besonderen Verwendung“ (Roman)
Nach dem Riesenerfolg von „Der Junge im gestreiften Pyjama“ legt John Boyne nun einen gewaltigen Roman über das Schicksal der letzten Zarenfamilie vor und beweist damit, dass er Geschichten von grossem epischen Ausmass souverän und packend gestalten kann.
Von Sandra Despont.
Die Ermordung der Zarenfamilie 1918 hat nicht nur zahlreiche Legenden, Mutmassungen sowie einige Prätendentinnen der Zarentochter Anastasia Nikolajewna Romanowa, sondern auch mehrere literarische und filmische Werke hervorgebracht. Nun hat sich auch John Boyne diesem Faszinosum der Geschichte gewidmet. Eigentlich post festum, wenn man bedenkt, dass seit 2007 die Zarenmorde als aufgeklärt, alle Opfer als identifiziert gelten. Und auch wenn man Boyne vorwerfen könnte, dass es historisch bedenklich sei, Anastasia von den Toten aufzuerwecken, gerade als ihre letzte Ruhe sicher schien, bezaubert John Boyne in „Das Haus zur besonderen Verwendung“ durch eine märchenhafte Liebesgeschichte.
Es war einmal
Irgendwann zu Beginn dieses Jahrhunderts in einem kleinen russischen Dörfchen namens Kaschin: Ein armer Muschik-Junge rettet einem Mitglied der Zarenfamilie geistesgegenwärtig das Leben. Als Belohnung wird Georgi zum Leibwächter des Zarewitsch Alexei, des zukünftigen Zaren gemacht. Er verlässt das kleine Dorf, seine Eltern und Geschwister um in St. Petersburg ein neues Leben anzufangen. Ein Leben, das er sich nie zu erträumen gewagt hätte. Er bewegt sich fortan im Umkreis der Zarenfamilie, erhält eine militärische Ausbildung, er wird ein Vertrauter des damals 12-jährigen Zarewitsch, er spricht mit dem Zaren persönlich, begegnet Rasputin und verliebt sich unsterblich in Anastasia, die jüngste Tochter des Zaren. Eine ebenso zarte wie verbotene Romanze bahnt sich an. Doch Russland wird durch den 1. Weltkrieg gewaltig erschüttert. Die Bevölkerung stellt die Regierung des Zaren immer mehr in Frage. Schliesslich übernehmen die Bolschewiken die Macht. Die Zarenfamilie wird gefangen genommen und an einen unbekannten Ort verbracht. Georgi macht sich auf die Suche nach seinem Schutzbefohlenen – und nach Anastasia.
Sojas Schuld
1981. Das alte Ehepaar Georgi und Soja lebt in England. Sie sind Exilrussen, die nach der Machtübernahme der Bolschewiken zuerst nach Paris, dann nach England geflohen sind. Dort haben sie ein neues, bescheidenes Leben aufgebaut. Soja hat sich mit dem Nähen von Kleidern, Georgi als Angestellter in einer Bibliothek den Lebensunterhalt verdient. Nach langem Warten wurde endlich auch ihr Kinderwunsch erfüllt. Doch Soja wird immer wieder von dem Glauben gequält, dass sie für das Unglück der ihr nahe stehenden Menschen verantwortlich ist. Und von diesem Unglück gab es eine Menge. Ihr Krebsleiden sieht sie als gerechte Strafe, die sie fast dankbar annimmt. Doch ein letztes Mal möchte sie noch ihre Heimat sehen. Georgi versucht derweil alles, um seine geliebte Soja zu retten – vor dem Krebs und vor sich selbst. Während er um das Leben seiner Frau kämpft, kommen immer wieder alte Erinnerungen hoch. An die Zeit damals, in Russland, als er als Muschik-Junge einen Verwandten des Zaren geistesgegenwärtig gerettet und dadurch eine grosse Schuld auf sich geladen hat.
Nicht ohne Schlittschuhszene!
„Meine Mutter und mein Vater führten keine glückliche Ehe.“ – Wer seinen auf den ersten Blick als fett erkennbaren Roman so beginnt, den Leser nach Russland führt und die Töchter des Zaren Tolstoi lesen lässt, könnte nicht deutlicher signalisieren, in welcher Erzähltradition er gerade rumwühlt. Doch nicht nur was die Schauplätze, die gesellschaftlichen Verhältnisse und einzelne Szenen anbelangt, orientiert sich Boyne mehr als deutlich an „Anna Karenina“. Bis zu einzelnen Szenen – tatsächlich scheint kein ordentlicher Russland-Roman ohne erotisch aufgeladene Schlittschuhszene auskommen zu können – reichen die Parallelen. Und besonders die Hauptfigur Boynes, Zarentochter Anastasia Nikolajewna, weist frappierende Ähnlichkeiten mit Tolstois unvergessener Romanheldin Anna Karenina auf. Mehr sei hier nicht verraten. Das Vergnügen, den einzelnen Spuren der berühmten Ehebrecherin zu folgen, soll allen geneigten Lesern nicht genommen werden. „Das Haus zur besonderen Verwendung“ ist deshalb insbesondere für Liebhaber der russischen Erzähltradition ein Genuss.
Epische Breite statt Effekthascherei
Um „Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist man 2006 kaum herumgekommen. Die Begeisterung über diese Geschichte, die sich mehr oder weniger reibungslos in die bereits zahllos existierenden Verarbeitungen des Holocausts einreihte, hielt sich trotzdem in Grenzen. Zu gewollt originell war die Erzählperspektive, zu effekthascherisch der Schluss, zu sehr wurde Tragik durch Verwechslung in einem Einzelschicksal gesucht, wo rundherum Abermillionen mehr als einer Verwechslung zum Opfer fielen. Mit „Das Haus zur besonderen Verwendung“ hat sich Boyne zwar ebenfalls wieder in geschichtliche Gefilde vorgewagt, doch er bewegt sich auf wesentlich weniger ausgelatschten Pfaden und fügt seinem neuen Roman ausserdem eine wohltuende epische Breite hinzu. Geschickt wechselt er zwischen der Erzählung von Gegenwart und Vergangenheit hin und her, ohne dass dies erzwungen scheint. So führt Boyne seine Leser in das zaristische Russland zurück und lässt ihn gleichzeitig im England der 1980-er Jahre gespannt einer durchdachten Rahmenhandlung folgen, von der aus immer wieder auf die russische Vergangenheit zurückgegriffen wird. Anders als in „Der Junge im gestreiften Pyjama“ lässt sich Boyne viel Zeit, um seine Figuren zu entwickeln und verleiht ihnen Komplexität und damit Glaubwürdigkeit.
Anastasia ist tot – es lebe Anastasia!
Das Haus zur besonderen Verwendung hat es wirklich gegeben. Dort hat sich das Schicksal der letzten Zarenfamilie erfüllt. Lange Zeit jedoch war unklar, ob tatsächlich alle Kinder des Zaren getötet worden waren. Einige Leichen wurden bis 2007 vermisst, andere konnten nicht eindeutig identifiziert werden. Dies führte dazu, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder Frauen auftauchten, die behaupteten, sie seien die Zarentochter Anastasia. Erst der Fund zweier weiterer Leichen und eine DNA-Analyse im Jahr 2007 setzte den Spekulationen um Überlebende der Familie Romanov ein Ende. John Boyne lässt in seinem Roman die Legende um Anastasia trotzdem noch einmal aufleben. Wer auf Tatsachentreue Wert legt, kann ihm Missachtung der Fakten vorwerfen, wer besonders bösartig sein will, könnte behaupten, Boyne habe seine Recherchen rund um die Zarenfamilie trotz neu geschaffener Tatsachen noch verwerten wollen. Wer aber einfach gerne gut geschriebene, lange Romane liest, sollte sich „Das Haus zur besonderen Verwendung“ unbedingt besorgen und die Erzählkunst des Autors geniessen. Denn wer gut konstruierte Romane mit berührenden Figuren mag, wird der Literatur wohl kaum absprechen wollen, dass sie manchmal wahrhaftiger, spannender und einnehmender ist als die Wirklichkeit selbst.
Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung
Autor: Johne Boyne
Übersetzer: Fritz Schneider
Verlag: Arche
Seiten: 559
Richtpreis: CHF 41.90