Roy Jacobsen: „Das Dorf der Wunder“

Von einem, der nicht dasselbe tut

Roy Jacobsen: „Das Dorf der Wunder“ (Roman)

„Das Dorf der Wunder“ des norwegischen Bestsellerautors Roy Jacobsen erzählt, wie in einem erbarmungslosen Krieg in der klirrenden Kälte Finnlands ausgerechnet ein Dorftrottel zum Helden wird.

Von Sandra Despont.

dasdorfderwunderAls sich die russischen Truppen 1939 dem finnischen Dorf Suomussalmi nähern, wird das Dorf von den Finnen evakuiert und niedergebrannt. Nur einer bleibt: der Dorftrottel Timo Vatanen. Warum er bleibt: unklar. Was er wird: ein Engel, ein Retter, ein Held.

Keine Angst – vor gar nichts

Seit dem Tod seiner Eltern arbeitet Timo, der mal bemitleidet, dann wieder wegen seinem Äusseren ausgelacht und wegen seiner Eigenartigkeit gekränkt wird, für den Kaufmann Antti und dessen zwei Söhne als Holzfäller. Die Bezahlung ist schlecht, doch viel braucht Timo nicht, sein Hof und die Wälder und Flüsse Finnlands versorgen ihn mit allem, was er braucht. Als im Winter 1939 der Krieg auch in den Norden Finnlands gelangt, packt Antti seine Sachen und geht. Auch Timo soll weg, doch er bohrt die Hacken in den Schnee und lässt sich nicht bewegen. Mit der grössten Selbstverständlichkeit der Welt bleibt er und merkt dazu bloss an: „Es ist wohl überall in der Welt so, es gibt immer einen, mindestens einen, der nicht dasselbe tut wie alle anderen, er braucht nicht einmal zu wissen, warum nicht, und hier in Suomussalmi war ich das also.“ Die Russen würden ihm nichts ausmachen, erklärt er dem finnischen Offizier, der kurz darauf den Befehl gibt, die Häuser in Brand zu setzen, er habe keine Angst. Vor gar nichts.

Das Feuer kommt, das Feuer geht und wie durch ein Wunder sind ausgerechnet die beiden Häuser unbeschädigt geblieben, die sich Timo zu retten vorgenommen hat. In diesen Häusern richtet er sich ein, bis die Russen tatsächlich einmarschieren. Mangels Gefangenentransports wird Timo dem Trupp von Holzfällern zugeschlagen, die vor den Linien unter Lebensgefahr tagtäglich Holz schlagen sollen. Bald wird klar, dass eigentlich nur einer hier weiss, was es im finnischen Winter  zu tun gibt, wie man in klirrender Kälte überleben kann: Timo. Er wird zur Hoffnung für die Holzfäller, zur Rettung derjenigen, die keine Ahnung von Krieg und Kälte haben.

Ein Dorftrottel als Hoffnungsspender

Die bunt zusammengewürfelte Truppe aus russischen Männern, die durch den Krieg ihres bisherigen Lebens beraubt und flugs zu Holzfällern gemacht wurden, wird von Timo wie selbstverständlich angeführt. In einer schicksalhaften Situation wird ausgerechnet ein Dorftrottel zum Symbol der Hoffnung aufs Überleben. Mit grosser Ruhe und Schlichtheit lässt Jacobsen seinen Helden berichten, wie er seine Männer manchmal durch paradox scheinende Aktionen am Leben erhält. So selbstverständlich ist für Timo alles, dass man sich als Leser schon einmal etwas dumm vorkommt, weil man nicht oder erst im Nachhinein zu begreifen vermag, wo der Sinn von Timos Handlungen liegt. Dies ändert sich auch nicht, als der Roman nach zweihundert Seiten unmittelbar in eine personale Erzählperspektive wechselt. Jacobsens Erzähler fühlt sich keineswegs dazu berufen, Unklares klar und Unlogisches logisch zu machen. Trotzdem eignet sich diese neue Perspektive dazu, eines zu begreifen: Dass der Krieg für Timo mehr Glück als Unglück gewesen war, dass er sich, wie Antti nach seiner Rückkehr feststellt, „in dem Frieden, in dem die anderen so glücklich herumzappelten“ unwohl fühlt. Denn die Verantwortung für das Schicksal der Menschen, zu der er im Krieg wie die Jungfrau zum Kinde gekommen war, lässt Timo auch im Frieden nicht los.

Von kleinen Wundern im grossen Krieg

Dass der Roman Jacobsens mehr ist als bloss eine weitere Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs, verdankt er nicht zuletzt Timo Vatanen. „Das Dorf der Wunder“ könnte ein Schelmenroman sein, wenn der Protagonist nur mehr Schelm und weniger Einfaltspinsel wäre, denn es ist keine kühle Berechnung, die Timo leitet, sondern etwas viel Schlichteres: das Wissen um das Überleben im finnischen Winter und das Gefühl der Verantwortung gegenüber seinen Holzfällern. So sperrig Timo als Figur ist, so beeindruckend erscheint er in seiner selbstverständlichen Menschlichkeit. So undurchdringbar seine Gedanken bleiben, so bestechend erscheinen seine Entscheidungen oft im Nachhinein. Mit scheinbar traumwandlerischen Sichherheit lässt Jacobsen seinen Helden durch den Krieg wandeln und seine Erfahrung mit der Natur und den Menschen sowie seine scharfe Beobachtungsgabe zum Überleben nutzen. „Das Dorf der Wunder“ erzählt so eine seltsame Geschichte eines seltsamen Menschen, es ist eine Geschichte von stillem Heldentum, von kleinen Wundern in einem grossen Krieg, von Mut in scheinbar auswegslosen Situationen und davon, dass ausgerechnet in einem gering, ein einem lächerlich erscheinenden Menschen am meisten Kraft und Hoffnung stecken kann.

Kriegsalltag fern jeder Sentimentalität

Durch „Das Dorf der Wunder“ wird die Absurdität des Krieges auf eine neue Weise fassbar. Roy Jacobsen ist gelungen, was heute selten mehr gelingen kann: Dem vielbeschriebenen Zweiten Weltkrieg einen neuen Aspekt abzugewinnen. Indem er uns an einen eher unbekannten Kriegsschauplatz führt, indem er konsequent auf seine widerspenstige Hauptfigur fokussiert, indem er bei seiner kleinen Geschichte im grossen Krieg bleibt, führt Jacobsen den Lesern Kriegsalltag fern der grossen Schlachten und Schlagworte, die wir mit dem Zweiten Weltkrieg verbinden, vor Augen. Fern von jeder Sentimentalität macht er damit Menschenschicksale fassbar, die von Geschichtsschreibern allenfalls unter „ferner liefen“ abgebucht würden. Es ist ein Glück, dass Timo Vatanen sich keine Gedanken um Politik macht, seinen Blick kaum je über die Grenze seines Dorfes hinausschweifen lässt, sondern sich hauptsächlich auf die heilige Dreieinigkeit des Überlebens im finnischen Winter konzentriert, namentlich: Essen, Schlaf und Wärme. Somit scheint Jacobsens „Das Dorf der Wunder“ näher an der Lebenswirklichkeit der Menschen im Krieg dran zu sein als so mancher grosse Roman mit ausgeklügeltem philosophischem Konzept und lebenswichtiger Botschaft.


Titel: Das Dorf der Wunder
Autor: Roy Jacobsen
Übersetzerin: Gabriele Haefs
Verlag: Osburg
Seiten: 237
Richtpreis: CHF 34.50

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