Massimo Carlotto, Marco Videtta: „Wo die Zitronen blühen“
Engagiert, politisch, gut
Massimo Carlotto, Marco Videtta: „Wo die Zitronen blühen“ (Kriminalroman)
Furios, brutal, beklemmend, schonungslos und düster sind Stichworte, die einem zu Massimo Carlottos Romanen wie „Arrivederci Amore, Ciao“ oder „Die dunkle Unermesslichkeit des Todes“ einfallen. Wer einen Roman dieser Art von „Wo die Zitronen blühen“ erwartet, wird enttäuscht – aber auf andere Weise beglückt.
Von Sandra Despont.
Dass dieses Glück keines der hellen, fröhlichen Art sein kann, versteht sich bei Carlotto wohl von selbst. Doch statt seine Leser in psychische Abgründe zu stürzen, wie er das in früheren Romanen getan hat, verwickeln er und sein Co-Autor Marco Videtta uns in „Wo die Zitronen blühen“ in eine Geschichte, in der die Stereotypen des Italiens jenseits von Pizza, Pasta und Stränden sich sämtlich die Ehre geben. Als da wären Korruption, Erpressung und Familie.
Tod einer Braut
Francesco Visentin, Spross einer wohlhabenden Anwaltsfamilie, will in wenigen Tagen seine geliebte Giovanna heiraten. Doch dann wird Giovanna in ihrer Badewanne ermordet aufgefunden. Als sich herausstellt, dass sie Francesco offenbar betrogen hat, wird dieser unversehens zum Verdächtigen. – Auf der Suche nach dem Geliebten und Mörder seiner Verlobten gerät Francesco immer tiefer in einen Sumpf von Korruption und Verbrechen. Denn Giovanna hatte vor ihrem Tod einen Skandal in Form einer illegalen Giftmülldeponie aufgedeckt und war so einer speziellen Zusammenarbeit zwischen den Industriellenclans des nordöstlichen Italiens und der alteingesessenen Oberschicht, die sich gegen aussen den Anschein von grosszügiger Wohltätigkeit und Ehrbarkeit gibt, dabei aber eine lange Geschichte von kriminellen Machenschaften und Geschäften in der Halblegalität hat, auf die Spur gekommen. War also doch nicht Giovannas Geliebter der Mörder, wie Francesco zuerst geglaubt hatte?
Alles ein bisschen netter
Wer die Härte und Unerbittlichkeit Carlottos mag, wird von „Wo die Zitronen blühen“ zweifellos zuerst einmal enttäuscht sein, denn der Roman ist vom Ton, von der Radikalität, von der Derbheit her schlicht nicht vergleichbar etwa mit anderen Romanen Carlottos. Die Vermutung liegt nahe, dass Co-Autor Marco Videtta das Seine zu der abgemilderten Version des Carlotto-Tons beigetragen hat. Man mag dies bedauern, man mag den Roman erst einmal weglegen, doch wer von seinen eigenen Erwartungen abzurücken und sich auf dieses Buch einlassen vermag, wird es nicht bereuen. Denn trotz wesentlich weniger deftig ausfallender Gewaltdarstellungen fehlt es „Wo die Zitronen blühen“ nicht an Schärfe. Es mag zwar alles ein bisschen netter wirken, doch hinter der Fassade eines geradlinigen Kriminalromans mit altbekannten Themen lauert beissende Gesellschaftskritik.
Salz in die Wunden der Selbstzufriedenen
Das Autorenduo Carlotto/Videtta entwirft eine etwas durchschaubare, aber gut konstruierte Handlung, durch die die Autoren Korruption und Vetternwirtschaft anprangern und den Mythos der italienischen Familie dekonstruieren. Der Kapitalismus zeigt seine hässliche Fratze in Form von Profitgier, Rücksichtslosigkeit und Menschenverachtung und pervertiert damit selbst die grundlegendsten menschlichen Gefühlsbindungen. Dass die Schilderungen von Gewalt nicht ganz so explizit ausfallen, dass der Protagonist Francesco eine eher blasse Figur bleibt, steht diesem Krimi interessanterweise gut an, denn man merkt, dass es den Autoren nicht bloss darum ging, etwas zur Spannungliteratur beizutragen. „Wo die Zitronen blühen“ ist im besten Sinne engagiert zu nennen. Und angesichts der aktuellen Ereignisse in Italien und überall auf der Welt ist dieser eigentlich simpel und schlicht erscheinende Roman doch Salz in den Wunden einer selbstzufriedenen Gesellschaft, die sich öfters die Frage nach der Herkunft ihres Wohlstandes stellen sollte. Carlotto ist hier, wohl nicht zuletzt dank seines Co-Autors Videtta, für einmal nicht verstörend, dafür aktuell, eminent politisch und relevant. Und das ist so gut, dass man sich mehr Gemeinschaftsarbeiten dieses Autorenduos wünscht.
Titel: Wo die Zitronen blühen
Autoren: Massimo Carlotto, Marco Videtta
Übersetzerin: Judith Elze
Verlag: Tropen
Seiten: 215
Richtpreis: CHF 32.90