Monika Helfer: „Bevor ich schlafen kann“
Widerstand als „zarter Herr“
Monika Helfer: „Bevor ich schlafen kann“ (Roman)
Die Wiener Psychiaterin Josi Bartok trifft das Schicksal gleich doppelt: Zuerst verliert sie wegen Krebs ihre Brüste, dann eröffnet ihr ihr Gatte, dass er sich wegen eines Mannes von ihr trennen will. Anstatt zu kapitulieren, leistet Josi mit einer grossen Portion Ironie Widerstand.
Von Stephan Sigg.
Wie bekämpft man Unglück, das das eigene Leben in seinen Grundfesten erschüttert? Josi tut das, was sie in den vergangenen Jahrzehnten vielen ihrer Patienten geraten hat: Sich vorstellen, man würde die Rolle in einem Roman oder Film spielen. Und so stürzt sich Josi voller Überzeugung in das Spiel. Sie kündigt ihre Stelle in der psychiatrischen Klinik, kleidet sich fortan als „zarter Herr“, trägt nur noch Herrenanzüge, bezieht eine neue Wohnung und führt dort Gespräche mit der Deckenlampe. Sie verbringt die Tage damit, ihre Vergangenheit zu reflektieren: die Kindheit in Vorarlberg, der Beginn ihrer Liebe zu ihrem Mann, die ersten Ehejahre, ihre beiden Kinder, denen sie aufgrund ihrer beruflichen Verpflichtungen nicht so viel Zeit widmen konnte, wie sie es sich im Nachhinein wünschen würde.
Wendepunkt in Griechenland
Ihre beiden Kinder beobachten diese Entwicklung mit Befremden und überreden ihre Mutter zu einer Kulturreise auf eine griechische Insel, wo der Schriftsteller Michael Köhlmeier eine Erzählwoche durchführt. Kaum in Griechenland angekommen, macht Josi zwei Bekanntschaften, die einen Wendepunkt in ihrem Leben einläuten. Sowohl zu Paula, der Tochter von Michael Köhlmeier, als auch zum Wiener Apotheker, der zusammen mit seiner Frau an der Erzählwoche teilnimmt, fühlt sie sich sofort hingezogen. Paula und der Apotheker sind von Josi wegen ihres geheimnisvollen Gehabes fasziniert. Auch wenn Josi vorzeitig und völlig überstürzt abreist, brechen die neugeknüpften Kontakte nicht ab: Während einer Schulreise besucht Paula Josi in Wien und dank ihres Einsatzes steht auch der Apotheker eines Tages vor der Tür. Nein, ein Happy End mit einer neuen besten jugendlichen Freundin und der grossen Liebe wäre zu naiv und würde man kaum erwarten. Trotzdem helfen Josi diese beiden Person, ihr Leben neu zu erfinden.
Fiktion mischt sich mit Realität
Monika Helfer mutet dem Leser in „Bevor ich schlafen kann“ einiges zu. Die Vorarlberger Autorin schreibt radikal und schonungslos. Aber Helfer kennt die richtige Dosis von Wut, Aggression, Trauer, Sehnsucht, Groteske und Ironie. Die Geschichte trägt autobiografische Züge: Michael Köhlmeier, der Ehemann der Autorin, sowie die Kinder des Paares tauchen in der Handlung auf und vor allem Tochter Paula, die 2003 bei einer Wanderung tödlich verunglückt ist, wird für die Protagonistin zur wichtigen Bezugs-, wenn nicht sogar Trostperson. Der Roman ist die Geschichte über eine Frau, die viel verliert, im Verlust aber erkennt, was ihr wichtig ist und ihr neues Leben – ohne aufreibende, unbefriedigende Arbeit in der psychiatrischen Klinik, ohne Ehe mit einem Mann, zu dem keine tatsächliche Nähe gelebt wurde – allmählich als Geschenk zu schätzen lernt.
Titel: Bevor ich schlafen kann
Autorin: Monika Helfer
Verlag: Deuticke
Seiten: 222
Richtpreis: CHF 27.90