Janet S. Charles: „Mond über Odessa“

Aus dem Leben einer „Online-Braut“

Janet S. Charles: „Mond über Odessa“ (Roman)

Daria ist jung, hübsch und intelligent. Ihr einziger Makel: Im ukrainischen Odessa geboren zu sein. Deshalb träumt sie vom reichen Prinzen, der dahergeritten kommt und sie ins Paradies auf Erden – besser bekannt als die USA – bringt.

Von Stephan Sigg.

mondüberodessaSkurrile Geschichten aus oder über ehemalige Ostblockstaaten und das Schicksal deren Landsleute sind im Trend. Marina Lewycka hat mit ihren Romanen (z.B. „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“) eine grosse Fangemeinde erobert. Um über Menschen aus ehemaligen Ostblock-Staaten, die ihr Glück im Westen suchen, erzählen zu können, muss man nicht unbedingt Landsmann bzw. Landsfrau zu sein, scheint sich die Amerikanerin Janet S. Charles gedacht zu haben. Der erste Roman der jungen Autorin, die zwei Jahre lang in Odessa gelebt hat, beschäftigt sich mit der Welt der „Online-Bräute“ – junge Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion, die durch die Heirat mit einem Amerikaner oder Westeuropäer der Armut und Perspektivenlosigkeit ihrer Heimat entkommen wollen.

Leben wie im amerikanischen Film

Auch das Sprachentalent Darja hat nur ein Ziel: ab in den goldenen Westen. Am liebsten in die USA, wo alle Englisch sprechen. Dabei führt sie im Odessa der 90er-Jahre ein Leben, von dem andere Ukrainerinnen und Ukrainer nur träumen können. Mit ihrer Stelle bei einer internationalen Reederei bezieht sie ein überdurchschnittliches Einkommen und zahlreiche Prämien und dazu kommt noch das Honorar, das sie als Dolmetscherin einer ukrainischen Online-Dating-Agentur verdient. Gerade hat sie sich vom Ersparten für sich und ihre Grossmutter eine neue Wohnung gekauft. Aber eben. Der Traum vom Leben, wie es die amerikanischen Filme zeigen, hat sich in ihrem Kopf festgemacht und will da nicht mehr raus. Und so macht sie dasselbe wie viele Frauen, für die sie gedolmetscht hat. Sie bandelt mit einem Amerikaner an und wagt den Schritt in die neue Welt.

Mehr Tempo gegen Schluss

Janet S. Charles hat mit Darja eine sympathische junge Frau erfunden, die dem Leser mit ihrem alles andere als naiven Optimismus und Stehauf-Charakter ans Herz wächst. Gerne begleitet der Leser sie bei der Suche nach privatem und beruflichem Glück. Auch überzeugt die Autorin mit ihren Kenntnissen über Odessa. Zwischen den Zeilen ist immer wieder ihre Liebe für die ukrainische Hafenstadt herauszulesen. Das macht Lust, die Stadt selber kennen zu lernen. Mit seinen knapp 450 Seiten ist Charles‘ Roman aber dann doch etwas zu lang geraten. Man wünscht sich, Autorin und Lektorat wären grosszügiger beim Kürzen gewesen. Es ist zwar spannend, die vielen Details über das Leben und den Alltag in Odessa zu erfahren, doch die Handlung gerät immer wieder ins Stocken. Da hätten ohne weiteres einige Wiederholungen entfernt werden können. So dauert es, bis die Handlung zum Thema, das der Klappentext versprochen hat (Einblick in das Leben einer „Online-Braut“), kommt. Und dieser letzte Teil gewinnt dann plötzlich enorm an Tempo. Gerade da geht es dem Leser aber zu schnell: Darja ist nun in den USA und wird mit der nüchternen US-Realität konfrontiert. Hier hätte man gerne mehr erfahren. „Mond über Odessa“ ist und bleibt aber vor allem ein Roman über das Odessa der 90er-Jahre.


Titel: Mond über Odessa
Autorin: Janet S. Charles
Übersetzerin: Astrid Arz
Verlag: C. Bertelsmann
Seiten: 447
Richtpreis: CHF 30.90

One thought on “Janet S. Charles: „Mond über Odessa“

  • 23.10.2012 um 11:19 Uhr
    Permalink

    Ich habe das Buch gelesen, es ist sehr spannend.

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