Inger-Maria Mahlke: „Silberfischchen“
Erbarmungsloses Kabinettstück
Inger-Maria Mahlke: „Silberfischchen“ (Roman)
Die junge Open-Mike-Preisträgerin Inger-Maria Mahlke legt mit ihrem ersten Roman ein Werk vor, wie man es sich von der deutschsprachigen Literatur öfter wünschen würde: unterhaltend, ohne banal, spannend, ohne anspruchslos zu sein.
Von Sandra Despont.
Auf knapp zweihundert Seiten lässt Mahlke vor den Augen ihrer Leser zwei sehr unterschiedliche Aussenseiter sich treffen, sich kennen lernen, sich mögen und hassen, sich miteinander auseinander setzen, sich finden und wieder verlieren. Konsequent und erbarmungslos führt Mahlke ihr Kabinettstückchen mit zwei hervorragend ausgewählten Protagonisten bis zu seinem bitteren Ende.
Die Häuser an der Wäscheleine
„Silberfischchen“ ist die Geschichte einer Annäherung, die schon wieder zu Ende ist, bevor sie richtig angefangen hat. Zwei einsame Menschen begegnen sich da. Der erste ist Hermann Mildt, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird. Dass diese Perspektive eine ganz besondere ist, wird schon im ersten, für den Leser zuerst einmal irritierenden Satz klar: „Eine lange Reihe abgasgeschwärzter Häuser, die sich in Pfützen spiegelten, trocknete an der Wäscheleine in der Küche, er stiess sie im Vorbeigehen an.“, heisst es da. Und damit ist man schon mitten in der Welt des Hermann Mildt, eines vorzeitig pensionierten Polizeibeamten, der in seiner unordentlichen, schmutzigen Wohnung einsam vor sich hinlebt. Seit dem Tod seiner Frau ist er ein alter, trauriger, langsam verwahrlosender Mann wie aus dem Bilderbuch. Seine einzige Freude sind die Fotografien, die er macht. Penibel sucht er sich Orte und Motive aus, akribisch plant er seine Ausflüge, sorgfältig entwickelt er die Fotos, um seine Werke dann in unzähligen Kartonschachteln zu stapeln. Ein bisschen beschränkt erscheint Hermann Mildt in seiner Pedanterie, ein bisschen bedauernswert in seiner Einsamkeit. Doch Hermann Mildt hat eine Seite, die alles andere als harmlos ist. Schliesslich wurde er nicht umsonst frühpensioniert.
Begegnung zweier Schwarzfahrer
Hermann Mildts Gegenpart ist eine Polin, Jana Potulski, nicht mehr ganz jung, noch nicht ganz alt, die er auf einem seiner Ausflüge trifft. Beide wurden ohne Fahrkarte erwischt. Er rechtfertigt sich damit, dass der Zug zu spät und sein Nichtraucherabteil voller Asche war, sie sagt, Fahrkarte, Papiere und Geld seien ihr geklaut worden. Hermann Mildt nimmt die Polin zu sich nach Hause, warum weiss er selbst nicht so genau. Er ist voller Misstrauen gegenüber dieser Frau, und doch lässt er sie in seine Wohnung. Was er dafür erwartet, ist ihm nicht klar, doch als sie zu putzen, aufzuräumen, zu kochen und ihn zu versorgen beginnt, und ihm ab und zu im Bad das Berühren ihrer Brüste erlaubt, wehrt er sich nicht. Trotzdem bleibt sein Misstrauen und plötzlich gesellt sich noch etwas Weiteres dazu: Er will, dass Jana Potulski das macht, was er will. Dass sie es so macht, wie er es will. Und dass sie ihn nicht stört, nichts von ihm verlangt. Ein absurdes Hin und Her zwischen der fürsorglichen, aber auch sehr selbstbestimmten Jana und dem missgünstigen, langsam einem irrationalen Kontrollwahn verfallenden Hermann beginnt. Momente der zarten Annäherung, feindselige Aktionen, körperliche Nähe und unüberwindbares Misstrauen wechseln sich ab und führen schliesslich zum Eklat.
Gefangen im Kopf des Hermann Mildt
Die Perspektive Hermann Mildts hält Mahlke konsequent bis zum Schluss durch, auch wenn sie für die Leser immer unmöglicher und zum Schluss kaum ertragbar wird. Es ist eine Qual zu beobachten, wie der alte Mann seiner Wahrnehmung, seiner Intoleranz und Sturheit erliegt und sich und Jana Potulski damit um die einmalige Möglichkeit bringt, eine vertrauensvolle Beziehung zueinander aufzubauen. Doch gerade in dieser Erbarmungslosigkeit liegt die Stärke des Romans. Unbeirrt läuft er auf den tragischen Schluss zu. Gefangen in Hermanns Perspektive, liegt für den Leser ein guter Teil des Reizes von „Silberfischchen“ darin, überhaupt einmal herauszufinden, wie der Kopf, in dem wir uns befinden, tickt, was wahr ist, was falsch, was wirklich passiert, wer Jana Potulski tatsächlich ist. Fein und vielschichtig zeichnet Inger-Maria Mahlke zudem das Porträt zweier Menschen, die einen kaum für sich zu erwärmen vermögen, deren Geschichte einen aber dennoch zu fesseln vermag. Sprachlich ebenso innovativ wie souverän, ohne ihre Idee durch Gedanken an ein zu erreichendes Publikum verwässern zu lassen oder durch das Bemühen nach Elitarität in unverständliche Höhen zu treiben, hat Inger-Maria Mahlke einen wunderbaren kleinen Roman geschrieben. Man darf ihre nächsten Arbeiten mit Spannung und Vorfreude erwarten.
Titel: Silberfischchen
Autorin: Inger-Maria Mahlke
Verlag: Aufbau
Seiten: 199
Richtpreis: CHF 28.50