Eli Gottlieb: „Was niemand sah“

Im Sog einer Tragödie

Eli Gottlieb: „Was niemand sah“ (Roman)

Als Star-Autor Rob Spencer zuerst seine Ex-Freundin und dann sich selber ermordet, ist Familienvater Nick zutiefst schockiert: Der Schriftsteller war sein engster Jugendfreund und so etwas wie ein Bruder. Während Nick versucht, die Hintergründe der Tragödie aufzudecken, kommt er Geheimnissen auf die Spur, die sein Leben in den Grundfesten erschüttern.

Von Stephan Sigg.

wasniemandsahManche Romane sind wie alte Lastkähne – es dauert eine Weile, bis sie an Fahrt gewinnen. Genau so ein Roman ist  „Was niemand sah“. An Spannung und „Suspense“, den der Klappentext verspricht, ist zu Beginn wenig vorhanden. Zunächst ein Einblick in den Alltag eines 0815-Familienvaters, der sich in einer grossen Lebenskrise befindet, an Ort und Stelle tritt und vor lauter Lethargie nichts unternehmen kann, um den Zerfall seiner Existenz aufzuhalten. Doch Lethargie ist nicht gerade die Zutat, die einen Roman nach vorne treibt. Noch weniger, wenn die Lethargie so eindrücklich geschildert wird, dass sie vom Leser Besitz ergreift. Und so wünscht man sich hinterher, die Überraschungen, die der Roman nach der ersten Hälfte zu bieten hat, wären schon früher aufgetaucht.

Ein gefundenes Fressen

Aber von vorne: Zunächst scheint alles klar zu sein. Kult-Autor Rob Spencer, der sich gerade in einer Schaffenskrise befindet, ermordet aus Eifersucht und Gekränktheit seine Ex-Freundin, eine aufstrebende Schriftstellerin, und begeht anschliessend Suizid. Ein Schriftsteller als Täter, eine Schriftstellerin als Opfer– natürlich ist das ein gefundenes Fressen für die Medien. Und so findet sich von einem Tag auf den anderen die beschauliche Kleinstadt Monarch, der Heimatort des Autors, in den nationalen Zeitungen, Zeitschriften und TV-Magazinen. Aber nein: „Was niemand sah“ ist kein Roman über einen Mord im Literatur-Milieu und genauso wenig die Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Massenmedien. Der Roman zeigt viel mehr, welche Wellen eine Tragödie verursachen kann und dass sie auch Auswirkungen auf Menschen hat, die nicht zu den unmittelbar Betroffenen gehören.

Rückzug in sich selbst

Man könnte meinen – und das denkt sich auch seine Ehefrau, Nick würde nach einer Zeit der Trauer über den Verlust seines Jugendfreundes, mit dem er in letzter Zeit sowieso nur noch losen Kontakt hatte, bald wieder zurück zu seinem Alltag finden. Doch je mehr Zeit vergeht, um so mehr zieht er sich in sich selbst zurück. Zwischen ihm und seiner Frau und den beiden Söhnen ist eine unsichtbare Trennscheibe, die jede Nähe verhindert.  Selbst gemeinsame Unternehmungen wie ein Ausflug zum Bogenschiessen bleiben erfolglose Versuche, seinen Kindern Liebe und Zuneigung zu demonstrieren. Warum nur hat Robs Tod ihn so krass aus der Bahn geworfen?

Längere Durststrecke bis zum grossen Kick

Diese zentrale Frage lässt Eli Gottlieb bis zum Schluss offen. Zwar ködert er den Leser nach der ersten Hälfte mit einigen Familiengeheimnissen, die nicht nur Nick, sondern auch den Leser überraschen, doch den richtigen Drive entwickelt „Was niemand sah“ erst am Ende. Hier geht es plötzlich Schlag auf Schlag und schon bald erscheint das bisher Gelesene in einem völlig neuen Licht. Rückblickend wird klar, dass es in diesem Roman auch darum geht, wie sehr Schuld lähmen und einen in sich selber einsperren kann. Aber um zum Highlight zu gelangen, muss der Leser eine längere Durstrecke in Kauf nehmen. Es drängt sich die Frage auf, weshalb das Lektorat im ersten Teil nicht mehr Kürzungen vorgenommen hat. Gottlieb hat das Händchen für Thrill, Suspense und auch für eindrückliche Schilderungen eines Familienvaters in der Krise, mit mehr Straffung wäre dies jedoch viel besser zur Geltung gekommen.


Titel: Was niemand sah
Autor: Eli Gottlieb
Übersetzer: Rainer Schmidt
Verlag: Droemer
Seiten: 285 Seiten
Richtpreis: CHF 33.50

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