Precious Williams: „Farbenblind“
Eine Nigerianerin in England
Precious Williams: „Farbenblind“ (Autobiographie)
Distanziert berichtet Precious Williams von einer verzweifelten Suche nach Identität, nach verlässlichen Bindungen, nach einer Heimat. Distanziert berichtet Precious Williams von – sich selbst. „Farbenblind“ ist eine Lebensgeschichte, die wenig erklärt, aber viele Fragen aufwirft.
Von Sandra Despont.
1971 wird in der „Nursery World“ ein Mädchen annonciert. Es sei drei Monate alt, nigerianisch, hübsch. Seine Mutter will ihm ein besseres Leben ermöglichen und sucht deshalb englische Pflegeeltern mit einwandfreiem Akzent. Sagt sie jedenfalls. Dann verschwindet sie fast gänzlich aus dem Leben ihres Kindes, das bei Nanny und Gramps in einer Sozialbausiedlung im westlichen Sussex zurückbleibt. Anita wächst heran – und beginnt sich unweigerlich zu fragen, wo sie wirklich hingehört. Ihre unablässige Suche nach einem Gefühl des Zuhauseseins bringt Anita an den Rand des Abgrunds.
Glücklich-unglückliche Kindheit
Von aussen betrachtet würde man vielleicht urteilen, dass Anitas Kindheit gar nicht so übel, ja sogar behütet und voller schöner Momente war. Nanny und Gramps, ihre Pflegeeltern, haben einen Narren an dem kleinen schwarzen Mädchen gefressen, die fast schon erwachsene Tochter Wendy und später ihr Mann Mick sind verlässliche Vertrauenspersonen und obwohl das Leben in der Sozialbausiedlung materiell keine nennenswerten Höhepunkte bereithält und Nanny durch ihre panische Angst vor Bakterien manche alltägliche Dinge zu eher speziellen Ereignissen macht, berichtet Anita von harmonischen Ausflügen, von Sonntagserlebnissen, von Ausfahrten in die Umgebung. Dies könnte also der Bericht über eine glückliche Kindheit sein; wären da nicht die unregelmässigen Ankündigungen, dass Mutter Elizabeth zu Besuch kommt, gefolgt von regelmässigen Absagen; wären da nicht die rassistischen Sprüche an den trostlosen Wänden; wäre da nicht das Gefühl, hier nicht sein wahres Zuhause zu haben.
Anita wird Precious
Ihre Hautfarbe ist eindeutig: Anita gehört nicht Nanny, sondern Elizabeth, nicht England, sondern Nigeria ist ihr Ursprungsland. Doch so sehr sie sich sehnt, so fern bleiben ihr beide, ihr Land und ihre Mutter. Die elegante Elizabeth ist im einen Moment entzückt, im anderen abgestossen von ihrer Tochter. Die gelegentlichen gemeinsamen Ausflüge enden nicht selten mit Verwünschungen, mit denen Elizabeth ihrer Enttäuschung über die missratene Tochter Ausdruck gibt. Anitas Bewunderung tut das keinen Abbruch, obwohl sie sich vor ihrer Mutter fürchtet – ebenso wie vor ihren zahlreichen Onkeln und Bekannten Elizabeths, die sich bald sexuelle Annäherungen gestatten. Als Anita in die Pubertät kommt, brechen alle unterschwelligen Identitätskonflikte auf. Sie bricht radikal mit ihrem englischen Zuhause, sucht in London Gleichgesinnte, was für sie auch immer Gleichfarbige heisst. Ihre Suche hat selbstzerstörerische Züge und endet ironischerweise doch wieder in der Sozialbausiedlung. Vorerst. Denn Anita weiss, dass die Existenz als ungewollt Mutter gewordene schwarze Frau nicht alles sein kann, was ihr das Leben zu bieten hat. Anita rappelt sich auf und wird…Precious.
Leiden ja, Selbstmitleid nein
Ja, ja, mag man denken. Da erzählt also eine schwarze Frau ihre ach-so-tragische Lebensgeschichte inklusive Ablehnung durch die Mutter, Rassismus und sexuellem Missbrauch. Nichts Neues, bloss Mitreiten auf der Mitleidswelle, geschickte Kombination von schwarzem, süssem, ausgegrenztem Kind, gewürzt mit bösen Männern, die immer nur an das Eine denken und sich das auch rücksichtslos holen. Doch wer gerne sentimentale, tränentriefende Rührstücke liest und sich angesichts tragischer Schicksale in Tränen ergeht, wer sich gern in ausführlichen Schilderungen unerträglichen Seelenleids suhlt und Lebensgeschichten nach dem Motte „Je schrecklicher, desto besser“ mag, wird enttäuscht sein. Precious Williams macht den Fehler nicht, dass sie sich in Selbstmitleid ergeht. Ihre Autobiographie ist weder weinerlich noch versucht sie im Nachhinein eine zielgerichtete Erklärung ihrer Entwicklung zu rekonstruieren. Ihr Blick auf sich selbst wie auch auf die Personen in ihrem Umfeld ist distanziert, mehr beschreibend denn wertend. Obwohl sie sich in der Erzählung ihrer Erinnerungen locker an eine Chronologie hält, konstruiert sie aus den verschiedenen Ereignissen weder eine folgerichtige Kette, die zur heutigen Precious führt, noch sind die erzählten Episoden planlos zusammengestellt. Precious Williams lässt die Leserinnen vielmehr teilhaben an dem Prozess des Nachvollziehens der eigenen Entwicklung, der schmerzvoll ist und trotz allem Bemühen um Verstehen immer undurchsichtig und verschlungen bleibt. Die Frage nach Identität stellt sich damit nicht nur für die Autorin, sondern für jeden einzelnen von uns. Mögen wir noch so gute Erklärungen haben, warum wir die sind, die wir sind, letztlich tappen wir gnadenlos im Dunkeln.
Herkunft und Identität
Dies hebt „Farbenblind“ über all die empfindsamen, selbstgefälligen Lebensgeschichten heraus, die niemand anderen als sich selbst zum Helden erklären um dann zu zeigen, wie böse und ungerecht alle anderen doch sind, wie sehr man gelitten, wie ungerecht man behandelt wurde, wie bewundernswert man doch alles durchgestanden hat. „Farbenblind“ ist keine Autobiographie, die man sich an einem regnerischen Sonntagnachmittag fröhlich zu Gemüte führen kann. Seine Autorin nimmt einen nicht an der Hand, um einen dann im Märchentantenstil durch das eigene Erleben zu führen. Stattdessen verlangt einem Precious Williams ab, dass man selbst Sinn konstruiert. Und das ist gut so, denn mit einer geradlinig erzählten, wertenden Mitleidsnummer wäre Precious sich selbst und ihrem Leben kaum gerecht geworden. So aber stellt „Farbenblind“ eindringlich die Frage nach dem Prozess der Identitätsfindung, nach dem Einfluss durch Umwelt und Herkunft darauf. Der Zusammenhang zwischen Anitas Hautfarbe, der Trennung von ihrer Mutter und dem ständigen Gefühl, in der englischen Sozialbausiedlung nicht zuhause zu sein, wird durch die Autorin selbst nicht schlüssig erklärt. Ist die Identitätskrise Anitas unter der Rubrik „Pubertätswirren“ abzubuchen, die ihrer nigerianischen Herkunft wegen bloss eine spezifische Ausprägung finden? Oder ergeben sich aus der Trennung eines Kindes vom Umfeld, in das es hineingeboren wurde, automatisch Identitätskonflikte, wie Anita sie erlebt und weit über das hinausgeht, was „normale“ Jugendliche während der Pubertät an Identitätskrisen erfahren? Wäre das Adoptionssystem also zu überdenken?
Precious Williams stellt sich diesen Fragen, indem sie das Kind beschreibt, das sie einmal war. Anita, die sich schmutzig fühlt, ohne zu wissen, warum. Anita, der auf Schritt und Tritt zu verstehen gegeben wird, dass sie anders ist, hässlich, dass ein Weisser sich bloss aus Mangel an Alternativen je zu ihr hinablassen würde. Anita, die als Jugendliche die Rolle des Outlaws zu spielen beginnt. Anita, die allen zum Trotz irgendwann doch eine Stärke in sich findet, die sie, unter anderem, eine Autobiographie schreiben lässt, die vielleicht kein Meisterwerk ist, aber doch, wie der Untertitel sagt, im besten Sinne eine „wahre Geschichte“.
Titel: Farbenblind
Autorin: Precious Williams
Übersetzerin: Almuth Carstens
Verlag: Bloomsbury Berlin
Seiten: 269
Richtpreis: CHF 36.90