Theodor Buhl: „Winnetou August“

Abschied von Winnetou

Theodor Buhl: „Winnetou August“ (Roman)

Aus der Sicht, nicht aber mit den Worten eines Kindes erzählt der achtjährige Rudi Rachfahl eine in seinem Erleben epische Vertreibungsgeschichte aus dem Umfeld des Zweiten Weltkriegs. Eine Erinnerung gegen das Vergessen.

Von Sandra Despont.

winnetouaugustRudi Rachfahl ist acht Jahre alt, als zum ersten Mal Pakete mit allen Habseligkeiten zu Verwandten im Westen geschickt werden, als die Familie zum ersten Mal die Rucksäcke packt, als dem Nahen des Russen und aller Schandtaten, der dieser begeht, ängstlich geharrt wird. Aus kindlicher Sicht, doch abgeklärt wie ein alter Mann, beschreibt er, als wäre er bloss ein unbeteiligter Beobachter, was mit seiner Familie, mit ihm selbst, besonders aber mit seinem Vater August in dieser Zeit geschieht. Der schlägt sich als aufrechter und gleichzeitig mit menschlichen Schwächen behafteter Held durch diese Geschichte vom Krieg.

Die Kackebrüder und das Arschloch

Vater August Rachfahl ist ein Unikat. Raubeinig ist er und eigensinnig. Während seinen Simmelwochen ist er ein Säufer, der notfalls auch zum Parfum greift. Aus dem Ersten Weltkrieg hat er einen lahmen linken Arm, die Knoche, wie er ihn nennt, doch weil er ordentlich schreibt, macht er eine Karriere als Beamter. 1933 geht seine eigene Partei flöten, mit den „Kackebrüdern“ kann er nichts anfangen, weigert sich ihnen beizutreten, selbst als ihm dadurch eine Beförderung entgeht. Als von ihm ein Ariernachweis verlangt wird, guckt er für einmal eine Weile lang nicht bloss ins Weltall hinaus, sondern auch in seine Vergangenheit hinein. „Lupenrein!“, findet er seinen Stammbaum, der vor allem eine beachtliche Zahl an Irrenwärtern aufweist. „Nicht ein einziger dabei, der Schule hat: wie der Führer selbst“, stellt August zufrieden fest.

Doch mit seiner unbeugsamen Haltung sorgt er immer wieder für bange Momente. Die konsequente Titulierung Hitlers als „das Arschloch“ etwa ist in Gesellschaft strammer Ostgrenzenverteidiger nicht gerade opportun. Doch sowas kümmert August wenig. Seine Knoche scheint Garant dafür, dass das Schicksal im entscheidenden Moment die Hand über ihn hält. Trotzdem ist August kein strahlender Held. Immer ist er auch Opportunist, immer hat sein eigenes Überleben und das seiner Familie erste Priorität. Nein, ein Märtyrer ist August wahrlich nicht, dafür ist er umso menschlicher. Polnisch lavierend verschafft er sich und den seinen Vorteile, meist geht es ihm um Alkohol, einmal ergattert er aber sogar ein ganzes Pferd. Um ihn dreht sich das Universum des Kindes Rudi Rachfahl, und nur einer kann ihm Konkurrenz machen: Winnetou.

Die hässliche Fratze der Rache

Winnetou wird von Rudi in einem Buch entdeckt und der stolze Apache und seine Welt lassen den Jungen nicht mehr los. Was dieser Karl May alles erlebt hat, beeindruckt Rudi tief. Er gibt sich der Lektüre hin, wie nur ein Kind sich der Lektüre hingeben kann – im Glauben, dass hier einer aus seinem wahren, echten Leben erzählt. Hier findet Rudi eine Welt, in der die Bösen bestraft werden, in der die Guten triumphieren und die damit krass mit Rudis Welt kontrastiert. In seiner Welt erlebt Rudi mit, wie die Menschen unter Bäumen vor seinen Augen vor lauter Erschöpfung nicht mehr weiter können und erfrieren, in dieser Welt wird Rudi mehrmals Zeuge der Vergewaltigung junger Mädchen, ja, von Kindern, in dieser Welt rätselt Rudi über manches, was das Monster genannt „der Russe“ tut. Die mehr angedeuteten als ausgeführten, darum aber nicht weniger erschreckend wirkenden Schilderungen der Gräueltaten während des russischen Vormarschs stellen auch hartgesottene Leser auf die Probe. Doch Buhl gelingt es durch seine authentische Figurengestaltung, durch den trockenen, manchmal sarkastischen Humor und vor allem durch die naiv distanzierte Erzählweise des Rudi Rachfahl seiner Geschichte gerade genügend Leichtigkeit zu verleihen, dass man den Leidensweg der Familie Rachfahl bis zu seinem Ende verfolgt. Nie wird „Winnetou August“ sentimental oder larmoyant, nie verkommt der Text zu einer puren Anklage oder Selbstrechtfertigung, auch wenn einige Figuren im Buch durchaus nicht verstehen wollen, dass die Russen hier auch Rache nehmen für das, was ihnen selbst und den ihrigen angetan wurde. So schreibt Theodor Buhl mit seinem Roman mit an der literarischen Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und nimmt mit der Vertreibung der Deutschen aus Schlesien einen bisher wenig beachteten Aspekt der Geschichte auf, der dem Leser jedoch eindrücklich die hässliche Fratze der Rache vor Augen hält.

Erzählerische Distanz

So kindlich Rudi Rachfahl zur Zeit seiner Vertreibung ist, so deutlich wird doch, dass sich in die kindliche Sichtweise der Blick des Erwachsenen mischt. Konsequent werden die Ereignisse aus Kindersicht gesehen, doch Wortwahl und Ausdrucksweise sind die eines Erwachsenen. Dies schafft zusätzliche Distanz, nicht nur zu den Ereignissen, sondern auch zu den Figuren und diese Distanz tut gut. Sie löst Betroffenheit aus, ohne dass man das Erheischen von Mitleid fürchtet. Sie platziert bis anhin gekonnt übersehene Ereignisse auf der Landkarte der Geschichte, ohne sich des Revisionismus verdächtig zu machen. Die Geschichte Rudis, die Geschichte der aus Schlesien Vertriebenen ist beklemmend und nur schwer erträglich, aber vielleicht auch notwenig. Denn viel wurde schon über den Zweiten Weltkrieg, über Flucht und Vertreibung, über den Verlust von Menschlichkeit geschrieben, so radikal und dabei sprachlich und inhaltlich innovativ wie von Theodor Buhl allerdings bloss selten. „Winnetou August“ ist somit eines der wenigen literarischen Werke, die nicht schon oft Gesagtes wiederholen, sondern irgendwie noch geschrieben, oder besser: publiziert werden mussten. Denn der 1936 geborene Buhl arbeitete schon seit den achtziger Jahren an diesem Roman, seinem Erstlingswerk.

Als Rudi Rachfahl gegen Ende des Buches, nach der Lektüre eines Grossteils der Abenteuer Old Shatterhands, nach dem Tod Winnetous, irgendwann den Verdacht schöpft, dass dieser Karl May diese sagenhaften Abenteuer gar nicht erlebt, sondern schlicht erfunden hat, kehrt er in eine Realität zurück, in der Gewalt nicht sinnvoll und durch Helden überwindbar, sondern nur noch absurd und grausam ist. In diesem Moment wird Rudi, der für einen Achtjährigen viel zu viel gesehen und die Verrohung der Menschen in unmenschlichen Umständen hautnah erfahren hat, erwachsen. Der Grenzübertritt in den Westen mag für ihn das Ende der Vertreibung sein. Er konstatiert sie so lakonisch wie alles andere. Doch während man Rudi wünscht, dass er vergessen kann, wünscht man uns, dass diese Ereignisse um den Zweiten Weltkrieg, dass all dies Leid nie vergessen werde. Und man wünscht dem Roman „Winnetou August“ , dass er dazu beitragen möge.


Titel: Winnetou August
Autor: Theodor Buhl
Verlag: Eichborn
Seiten: 320
Richtpreis: CHF 33.50

One thought on “Theodor Buhl: „Winnetou August“

  • 24.07.2011 um 20:45 Uhr
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    Buhl hat etwas sehr Seltenes geschaffen: Individuelles und Typisches, ohne Klischees. Die Authentizität der Sprache hat mich gefesselt, manches las ich deshalb noch einmal. Die Ereignisse selbst erlebt, waren mir nicht neu. Erschüttert kommt man zu dem Schluss: jede Vertreibung ist inhuman, macht aus dem Menschen ein Unwesen, dass man mit keinem Tier vergleichen möchte – aus Gerechtigkeit.. Und dennoch musste ich plötzlich laut lachen, manchmal auch unterdrückt stöhnen – ein Kunstwerk eben, ersten Ranges.
    Als ich das Buch zuklappte, war mein größter Wunsch dem Autor die Hand zu drücken und dem Buch die größte Verbreitung zu wünschen. Meine Tochter las es auch, sie teilte meine Einschätzung, bevor sie mein Urteil kannte.
    W. Seiring

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