“Medea“ von Euripides | Schauspielhaus Zürich
Wenn verletzter Stolz zum Kindermord führt

Das Schauspielhaus Zürich zeigt Euripides antikes Drama „Medea“ in einer sehr gelungenen Inszenierung von Barbara Frey. Nina Hoss brilliert in der Rolle der Titelgestalt.
Euripides’ Medea ist eine der tragischsten und gleichzeitig faszinierendsten Gestalten der klassischen griechischen Tragödie. Eine vor Eifersucht rasende verlassene Ehefrau, eine Kindermörderin und insbesondere eine Frau, die sich ihre Ehre nicht rauben lässt. Wie man sich einer Figur annähert, deren Tat schwer nachvollziehbar ist, zeigt uns Barbara Frey in einer sehr gelungenen Interpretation des Stoffes. Vom ersten Augenblick an wird klar, dass es ein düsterer, melancholischer Theaterabend werden wird. Und insbesondere ein sehr, sehr dramatischer.
Verletzte Ehre, verletzter Stolz
Unaufgeregt und ruhig kommt das Stück zu Beginn daher. Die Figuren stehen frontal auf der kaum beleuchteten Bühne. Unbeweglich sprechen sie den Text in den Zuschauerraum hinein. Doch die Thematik und die Worte bewegen. Das Bühnenbild besteht aus einem Kubus in der Bühnenmitte. Zu sehen ist eine enge, mit Gerümpel vollgestellte Küche. Hier drin hält sich Medea (Nina Hoss) permanent auf, es ist ihre Welt. Eng und beengend. Medea, die aus Liebe zu Jason (Michael Neuschwander) ihre Heimat Kolchis verlassen hat, um mit ihm in Griechenland zu leben. Medea, die für ihre Liebe ihren Vater betrogen und ihren Bruder hat umbringen lassen. Nun lebt sie mit ihren beiden Söhnen als eine Fremde im Exil.

Von ihrem Mann Jason wird sie hinterhältig verlassen, weil er die viel jüngere Glauke, die Tochter von Kreon, dem König von Korinth (Markus Scheumann), heiraten will. „Zum Wohle seiner Söhne“, wie er sich vor Medea zu rechtfertigen versucht. Medea in ihrem Stolz, in ihrer Ehre und ihrem Gerechtigkeitssinn verletzt, beschliesst, sich zu rächen. Und ihre Rache kommt grausam daher, monströs. So grausam, dass sie alles Menschliche übersteigert und es dem Zuschauer fast verunmöglicht, Empathie zu empfinden. Und doch tut man an diesem Abend genau das. Man fühlt mit dieser starken Frau, die sich gegen eine von Männern dominierte Gesellschaft auflehnt und diesen in jedem Augenblick weit überlegen wirkt. Das macht den Konflikt umso spannungsreicher.
Interessant sind das Aufeinanderprallen und der Kontrast zwischen den Figuren. Medea stark, klug und gerissen, während Jason feige daherkommt. Mit fadenscheinigen Argumenten versucht er, die Hochzeit mit der Prinzessin zu rechtfertigen. Er redet mit Medea, wie mit einem aufmüpfigen Kind, und hat kein Verständnis für ihre Trauer und ihre Wut. Er sitzt und steht da in herablassender Art, glaubt, dass ein paar Geldscheine das Ganze wieder gutmachen. Und das macht ihn zutiefst unsympathisch. Entfremdet stehen sie sich gegenüber. Sie voll Hass und getrieben von Rachegelüsten und er selbstsüchtig, selbstgefällig und nur auf sein eigenes Wohl bedacht. Und genau das wird ihn teuer zu stehen kommen, denn Medea ist eine Frau, die sich das nicht gefallen lässt.
Zwischen Verzweiflung und Raserei
Medea ist eine Figur, die die Menschen seit jeher in ihren Bann ziehen und gleichzeitig auch abstossen kann. Eine ambivalente Figur, die in Barbara Freys Inszenierung genau so gezeichnet ist. Sie schwankt zwischen verzweifelter Hoffnungslosigkeit, Raserei und Entschlossenheit zur Tat. Dabei wirkt sie in jedem Moment authentisch. Auf verzweifeltes Flehen folgt ein ungebremster Wutanfall. Und dazwischen gibt es Momente des klaren Verstandes, der Berechnung und Planung der entsetzlichen Tat. Die Wechsel der Emotionen, oft blitzschnell aufeinander folgend, verleihen dem Stück seinen Antrieb. Der Chor redet auf Medea ein, beschwört sie, ihre Kinder nicht zu töten. Diese Stimmen hallen wider, finden Anklang, werden aber sogleich wieder vertrieben. Sie erscheinen wie Stimmen in Medeas Kopf. In ihrem Wahnsinn wirkt sie psychotisch dann aber wieder klar und überlegt, wenn sie die Tat reflektiert und sagt: „Ich weiss genau, welches Verbrechen ich begehen will, aber die Leidenschaft ist mächtiger als die Einsicht.“ Ihr ganz persönliches Leiden ist so stark, dass sie anderen Leid zufügen muss. Sie hat den Entschluss zu Morden gefasst und es gibt kein Zurück, auch wenn sie weiss, dass sie sich selber damit nicht weniger schwer treffen wird als Jason. Zu stolz, zu eigensinnig und zu gekränkt ist Medea. Sie schreitet zur Tat. Die brutalen Ereignisse, der Kindermord und der Tod der Prinzessin, die durch Medeas in Gift getränkten Mantel und Schmuck den Tod findet, erreichen die Zuschauer durch den Botenbericht.

Eine brillante Nina Hoss
Entstanden ist ein gelungenes, sprachgewaltiges Stück mit psychologisch nuancierten und fein ausgearbeiteten Figuren. Nina Hoss hat an dem Abend den grössten Textanteil zu bewältigen und sie meistert das mit Bravour. Oftmals steht sie da und schleudert dem Zuschauer einen minutenlangen Monolog entgegen. Man lauscht gespannt und konzentriert. Hoss‘ Spiel ist nicht nur verbal sehr stark, sondern überzeugt durch enorme körperliche Präsenz. Sie hat für die Rolle der Medea (das Stück wurde am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt) einen der wichtigsten deutschen Theaterpreise, den Gertrud Eysoldt-Ring erhalten. Und wer sich das Stück ansieht, weiss warum.
Übernahme vom Deutschen Theater Berlin.
Besprechung der Zürcher Premiere vom 4. Februar 2011.
Weitere Vorstellungen am 6., 7., 24. und 25. Februar sowie am 2., 8., 22. und 23. März 2011.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause.
Besetzung
Amme – Iris Erdmann
Erzieher – Gàbor Biedermann
Korintherin – Ursula Doll
Medea – Nina Hoss
Kreon – Markus Scheumann
Jason – Michael Neuschwander
Ägeus – Siggi Schwientek
Bote – Matthias Bundschuh
Kinder –Cyrill Birchler, Colin Rusterholz / Finn Bogatu, Emil Trautmann
Regie: Barbara Frey
Bühne: Bettina Meyer
Kostüme: Gesine Völlm
Licht: Fraunk Bittermann / Claus Grasmeder
Video: Bert Zander
Dramaturgie: Katja Hagedorn / Roland Koberg
Regieassistenz: Hannes Weilter
Bühnenbildassistenz: Barbara Pfyffer
Kostümassistenz: Eva Krämer
Soufflage: Gerlinde Uhlig-Vanet
Inspizienz: Hansruedi Herrmann
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