Nataša Dragnić: „Jeden Tag, jede Stunde“ (Roman)
Liebesgeschichte zweier seltsamer Kinder
Nataša Dragnić: „Jeden Tag, jede Stunde“ (Roman)
Nataša Dragnić erzählt in „Jeden Tag, jede Stunde“ eine Liebesgeschichte, die auch kitschig sein könnte, vor allem aber von der grossen sprachlichen Gestaltungskraft seiner Autorin zeugt.
Von Sandra Despont.
Wir beginnen bei Kapitel 40. Nicht, weil mir dieses Kapitel am besten gefällt, sondern weil „Jeden Tag, jede Stunde“ genau da anfängt. Kapitel 40 also. Zwei ältere Menschen begegnen sich und schnell wird klar: Zwischen diesen beiden ist viel passiert. Von Liebe ist die Rede, von gemeinsamen Erinnerungen. Von Verlust, von Traurigkeit. Hochromantisch, anspielungsreich, nah am Kitsch. Welche Autorin, die im insgesamt doch recht elitären deutschen Literaturbetrieb ernst genommen werden will, traut sich das schon? Der gefühlsmässig von diesen beiden Figuren und ihrer Geschichte noch völlig unbeleckte Leser wird mit den ersten Zeilen dieses Romans in einen emotionalen Dialog geworfen, in dem Wölklein schweben und Liebesschwüre gesprochen werden. Warnlampe! Akute Kitschgefahr! Und es kommt noch schlimmer… Wie Nataša Dragnić damit durchkommt, lesen Sie hier.
Stiller Junge, schreiendes Mädchen
Die Geschichte von Luka und Dora fängt an mit einer Tasche. Nicht mit irgendeiner, natürlich, sondern mit der schönsten Tasche der Welt, der schönsten jedenfalls, die der fünfjährige Luka in seinem bisherigen Leben gesehen hat. Zu dieser Tasche gehört ein bemerkenswertes Mädchen: Dora. Ein süsser Wirbelwind, eine poetische Seele, der sich Luka sogleich verbunden fühlt. Die beiden werden unzertrennlich. Da sie beide etwas seltsam sind – Luka, das Baby, das sofort nach seiner Geburt nur noch eins war: still und nachdenklich; Dora, das Mädchen, das nach seiner Geburt so laut schreit, wie keins – scheinen sie mitsamt ihrer innigen Freundschaft ihrem Umfeld wie entrückt. Ihre kleine Welt aus Sonne, Sand und Meer, aus Eisessen, Herumtoben und Wolkenbetrachten scheint perfekt. Doch ihre Wege sollen sich bald trennen.
Eine klaffende Lücke im Leben
Mit der Verzweiflung von Kindern reagieren Dora und Luka, als Dora mit ihren Eltern vom kleinen kroatischen Badeort nach Paris zieht. Luka überwindet das Gefühl des Verlassenwordenseins nie, er bleibt zornig zurück. Die einige Jahre jüngere Dora vergisst Luka zwar, trotzdem fühlt sie, dass in ihrem Leben eine Lücke klafft. Beide leben ihr Leben, Luka erst in Makarska, dann in Zagreb, Dora in Paris. Beide verfolgen ihre künstlerische Laufbahn, beide suchen Liebe – und können sie ohne einander nicht finden. Nach Jahren begegnen sich Dora und Luka wieder – um sich abermals zu verlieren. „Jeden Tag, jede Stunde“ ist ein Liebesroman, der das emotionale Potential von gemeinsamem Glück und schicksalshafter Trennung weidlich ausschöpft. Unerträglich, könnte man meinen. Doch nein. Denn Nataša Dragnić weiss auf dem wackligen Seil über dem Kitschabgrund meisterhaft zu balancieren.
Tote Möwen vor die Füsse des Lesers
Was soll man davon halten, wenn einem eine Autorin im Moment der Trennung von zwei Kindern, die sich lieb haben, zwei tote Möwen vor die Füsse, bzw. vor die Höhle, die die Kinder für sich und ihr Zusammensein entdeckt haben, schmeisst? Plumper geht es ja wohl kaum. Doch Nataša Dragnić weiss sehr genau, was sie tut. Die zwei Möwen sind bloss der Anfang eines Geflechts von Beziehungen und Anspielungen, von Doppelungen und Wiederholungen, die sich durch „Jeden Tag, jede Stunde“ ziehen. Eifrige Literaturwissenschaftler werden geradezu aufgefordert, alle versteckten Leitmotive ausfindig zu machen. Manchmal ist dieser Kniff, durch Wiederholungen eine Art mythisches Textgewebe zu erzeugen, etwas sehr aufdringlich. Einige Ausdrucksweisen, wie etwa Doras Mutters Standardspruch „schlicht und ergreifend“, sind arg banal und überstrapaziert. Doch an anderen Stellen gewinnt die Liebesgeschichte durch die Beschwörung der immer gleichen Motive und Stimmungen eine Atmosphäre, die das Geschehen um Dora und Luka von der verstandesorientierten Alltagswelt abhebt, ohne allzu tief in die Klischeekiste zu geraten. Die Autorin schafft ein beziehungsreiches Universum, in dem sich ihre beiden Liebenden auch während den Zeiten, in denen sie getrennte Wege gehen, ganz allein befinden und zu dem kein Aussenstehender Zutritt hat und feiert damit sprachlich die Exklusivität einer Liebe, die sich weder erklären kann noch will.
Abblättern des rosa Lacks
Inhaltlich lebt „Jeden Tag, jede Stunde“ stark von Stimmungsbildern, die von der Autorin in den ersten Kapiteln sorgfältig konstruiert und immer wieder aufgerufen werden. So könnte dieses Buch poetisch weitergehen, haarscharf am Kitsch vorbeischrammend, doch nein. Die Autorin entzaubert ihr Liebespaar im zweiten Teil des Romans gewaltig durch eine weitere Trennung. Das Mittel erscheint unfair – so viele unzuverlässige Pillen und versagende Kondome gibt es auf der Welt nicht, dass Luka eine Frau, die er nicht liebt, gleich zweimal schwängern kann. Um seine Schuldgefühle gegenüber Klara, die seine Frau wird, und Dora, die er wortlos verlässt, zu verdrängen, klagt er, der Meister im Weglaufen, die Ungerechtigkeit des Lebens an, statt seine eigene Verantwortungslosigkeit zu verfluchen. Von dem süssen Liebespaar, das sich Neruda-Verse vorsagt und zärtlich neckt, blättert der rosa Lack ab. Darunter kommt ein selbstsüchtiges, rücksichtsloses Verlangen nach Glück zum Vorschein. Wie haltlose, eigensüchtige Kinder taumeln Luka und Dora von da an durch ihre Leben, bis – ja, bis sie sich eines Tages wieder begegnen.
Sprachlich beeindruckend
Es bleibt offen, ob die Autorin tatsächlich darauf hinarbeitet, dass wir bis zuletzt mit Luka und Dora mitfühlen, oder ob wir angesichts so verlogener Selbstrechtfertigung nicht irgendwann angewidert unseren Blick von diesen beiden abwenden sollen. Und genau das macht die Stärke von „Jeden Tag, jede Stunde aus“. Nataša Dragnić lässt uns an einem grossen Glück zweier Liebender teilhaben, die sie herzlos gegenüber anderen macht. Sie lässt es zu, dass das Leben sie hinters Licht führt, sie immer wieder trennt, immer wieder im ungünstigsten aller Augenblicke zueinander führt und gibt dabei als Erzählerin ihre Haltung Dora und Luka gegenüber nicht preis, denn die Perspektive ist unverbrüchlich die der beiden Liebenden, auch wenn sich diese, gelinde gesagt, einigermassen gefühlsmässig verblendet benehmen. Diese Ambiguität macht den Roman auch für weniger eingefleischte Liebesroman-Leser erträglich – und natürlich, dass Nataša Dragnić ihre selbstgestellte Aufgabe sprachlich beeindruckend meistert. Auch hier, merkt man, weiss die Autorin genau, was sie tut. In meist kurzen Sätzen berichtet sie sachlich, was äusserlich passiert, geht es um innere, emotionale Zustände, stehen sich kühne lyrische Satzgebilde, Satzfragmente, nicht enden wollende, beschwörungsartige Aufzählungen gegenüber. So trägt die Sprache Nataša Dragnićs souverän über einige zum Kitsch neigende Passagen hinweg. Dieser Sprache und der leichtfüssigen, ernsten und doch augenzwinkernden Erzählweise wegen ist zu hoffen, dass man von dieser Autorin noch einiges wird lesen können.
Titel: Jeden Tag, jede Stunde
Autor: Nataša Dragnić
Verlag: DVA
Seiten: 288
Richtpreis: CHF 33.90