Ideologie vs. Lehrauftrag

Eine Meta-Empörung

Zur Trennung von Ideologie und Lehre an Schweizer Universitäten

Die Zeit heilt alle Wunden? Ein Allgemeinplatz, der selten zutrifft. Denn sehr oft reisst die Vergangenheit zugewachsene Wunden wieder auf und lässt die untröstliche Gegenwart mit ihren moraldurchtränkten Tentakeln erbarmungslos darin wühlen. Bei dem hier aufgefrischten Wundmal handelt es sich um eine Irritation, eine Verwirrung auf der Suche nach geistiger Orientierung.

Von Garabet Gül

Zugegeben: Unter den Geschehnissen, die sich in jüngster Zeit in der Welt ereigneten und noch stattfinden, gibt es solche, die durchaus eine breitere Ausstrahlungs- und Faszinationskraft besitzen als das dem hier folgenden Gedankengang zugrundeliegende Vorkommnis. Doch über die SVP, wissenschaftliche Redlichkeit und die Situation in den arabischen Ländern denken bereits ganz viele gelehrte Köpfe, Experten, nach und beglücken uns tagtäglich mit versierten Analysen und sachkundigen Kommentaren. Der Gegenstand der vorliegenden Auseinandersetzung hingegen besitzt keine derart breitenwirksame Brisanz. Es handelt sich um eine alltägliche Geschichte eines Menschen, ein Einzelschicksal, so wie jedes Schicksal letzten Endes etwas Einzelnes ist.

Kommt hinzu, dass die Geschichte nicht über eine renommierte Publikation den Weg in die moralische Öffentlichkeit gefunden hat – ist doch das Epizentrum der Meldung oft aussagekräftiger als der Inhalt der verbreiteten Erschütterung. In der Begebenheit hier war es die Zürcher Studierendenzeitung „ZS“ (Ausgabe 1/11), die den Vorfall mit Mitteln medialer Empörungskultur genüsslich ausschlachtete und zu einem Skandal im Mikrokosmos Universität hochstilisierte. „20 Minuten“ erbrach sich kurz darauf auch noch über die vermeintliche Affäre.

Die Vergangenheit als Tatbestand

Einem Assistenten am Philosophischen Seminar der Universität Zürich wird der Vertrag nicht verlängert, weil im weltweiten Gedächtnis-Netz der digitalisierten Welt unter anderem ein Bild von ihm als 18-Jährigem aufgetaucht ist, das ihn unvorteilhaft mit schwarzer Sonnenbrille und Lederjacke bei einem Gerichtsprozess zeigt. Die Anklage damals, vor notabene 17 Jahren: Bildung einer kriminellen, rechtsradikalen Vereinigung. Laut Protokollen, die der ZS vorliegen sollen, ist er Gründungsmitglied gewesen und mitverantwortlich für nationalsozialistische Hetzereien. Gegenüber der Studierendenzeitung gibt er zu, aktives Mitglied in einer Neonazi-Vereinigung gewesen zu sein, sagt aber auch umgehend und unmissverständlich, dass er sich noch im Jahre 1994 aus der Szene zurückgezogen habe. Bisher scheinen keine Dokumente bekannt zu sein, die dieser Aussage widersprechen würden. Es wird noch die Frage aufgeworfen, ob der heutige Doktorand bloss Mitläufer war oder auch zum Kader gehörte. Hier widersprechen sich der Berichterstattung zufolge zum Teil die vorliegenden Dokumente und die Aussagen des Angeprangerten, was indes nicht weiter relevant ist. Wichtig ist, dass hier ein Mensch von einer moralischen Obrigkeit aussortiert wird, weil er in jungen Jahren verwerfliche Handlungen beging, für die er, wie es in der ZS heisst, mit 100 Stunden Sozialarbeit bestraft wurde.

Auf die juristische Verurteilung folgt nun die späte sittliche Strafe. Dabei wurde die Schuld schon länger gesühnt und der Beschuldigte lehnt heute, wie er gegenüber der ZS betont, „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in aller Form“ ab. Doch die gesellschaftlichen Sensibilitäten lassen es nicht zu, dass er seine Stelle an der Universität beibehält. Warum eigentlich nicht? Was hat der Vorgang vor 17 Jahren mit seiner heutigen Lehrtätigkeit zu tun?

Unpolitische Philosophie

„Ex-Neonazi lehrte Heidegger“. So lautet ein verführerischer Zwischentitel in der ZS. Und für alle, die vom Denken Martin Heideggers nichts wissen, wird gleich noch ein Zitat von einem Heidegger-Biographen namens Anton Fischer angeführt, der meint, Heidegger habe mit seinem Denken „der Ideologie des Faschismus ein philosophisches Mäntelchen umgehängt, das naive Leser leicht irreführen kann“. Eine absurde Leseart zwar, doch darüber lässt sich durchaus miteinander denken. Nur ist es nicht fruchtbar für den philosophischen Diskurs, wenn der Medienwirksamkeit zuliebe mit solch einseitigen Suggerierungen hantiert und ein für die Geistesgeschichte so wesentliches Denken leichtfertig in die Nähe eines ideologisch verseuchten Gebiets gerückt wird.

Wer sich hingegen mit dem Denken Heideggers auseinandergesetzt hat, dem sollte bekannt sein, dass es in diesem Denken nie darum ging, sich politisch zu positionieren – ja, nie hätte darum gehen können. Denken hat mit Politik per se nichts zu tun. Diese Einsicht scheint auch der verurteilte Assistent geteilt zu haben: Nichts weist darauf hin, dass er in seine Seminare irgendwelche persönlichen, radikal-politischen Einstellungen einfliessen liess. Dies wird laut der ZS auch von der Seminarvorsteherin und den Teilnehmern der Seminare bestätigt, die sich überrascht zeigen über die Vergangenheit ihres Dozenten.

Diesbezüglich scheint also nichts dagegen zu sprechen, den Anstellungsvertrag zu verlängern. Die Lehre wurde von den Irrungen und Wirrungen der Jugendzeit nicht tangiert. Es ist ja auch nicht der Fall, dass ein Neonazi Heidegger unterrichtet hätte, sondern eben ein „Ex-Neonazi“. Ein Präfix ist nicht immer ein bloss ästhetisches, obsoletes Anhängsel. Manchmal korrespondiert es auch mit einer Tatsache.

Exkurs: Neutrale Wissenschaft?

Die folgende Abschwenkung soll als Hinweis betrachtet werden, der darauf hinzeigt, dass das hehre Ideal einer werturteilsfreien Lehre an Universitäten von anderen politischen Ideologien wie dem Liberalismus und dem Sozialismus, offenkundig und gesellschaftlich geduldet, unterminiert wird. Diese zweifache Andeutung darf  nicht wertend verstanden werden, sondern soll als kontextualisierende Erweiterung der Diskussion dienen.

Das erste Beispiel betrifft die Hochschule St.Gallen. An der HSG werden nicht nur Disziplinen unterrichtet, es wird auch ein politisch-liberales Weltbild propagiert. Wer in St.Gallen Wirtschaft studiert, der erfährt auch eine tendenziöse Vermittlung von wirtschafts-wissenschaftlichen Inhalten. Die (wirtschaftliche) Freiheit wird hoch gehalten und die Marktwirtschaft wird als die eine grosse Wahrheit der Menschheit betrachtet. Das Gegenteil ist am Soziologischen Institut in Basel zu beobachten. Einer der drei Lehrstühle am Institut wird besetzt von einem Professor, dessen politische Präferenzen allseits bekannt sind. Zwei Assistierende des Lehrstuhls sind in der Bewegung für den Sozialismus (BFS) und eine Hilfsassistentin ist Mitglied bei den Jungsozialisten (Juso). Hier ist ganz klar der Kapitalismus das politische und wissenschaftliche Feindbild und es lehren Sozialisten Marx – und nicht Ex-Sozialisten.

Wirtschaft und Soziologie, Sozialwissenschaften, sind bestimmt anfälliger gegenüber politischen Vereinnahmungen, da sie sich unmittelbarer als die Geisteswissenschaften mit real existierenden  gesellschaftlichen Organisationsformen auseinandersetzen. Aber müssen diese Fächer deswegen auch derart indoktriniert gelehrt werden?

Das säkularisierte Böse

Wie dem auch sei: Wenn der Verdacht, die politische Einstellung eines Dozenten könnte die universitäre Lehre zu stark beinträchtigen, Grund genug dafür ist, ihm die Weiterführung seines Lehrauftrags zu verwehren,  müssten konsequenterweise alle Lehrenden mit irgendeinem politisch ideologischen Gedankengut ihren Arbeitsplatz an den Hochschulen verlieren. Diese Problematik ist jedoch bestimmt nicht allein verantwortlich für die konsequente Haltung der Entscheidungsträger in diesem Fall. Der Nationalsozialismus ist das säkularisierte Böse schlechthin, die nationalsozialistische Ideologie und ihre historische Umsetzung ist unvergleichbar und einzigartig in ihrer destruktiven Qualität und wird zurecht mit ganz besonderen Empfindlichkeiten beurteilt und verurteilt. Trotzdem stellen sich einige Fragen hinsichtlich dieses Entscheids der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich.

Wie soll sich eine, sich selber aufgeklärt und demokratisch nennende Gesellschaft gegenüber Menschen verhalten, die einmal an das Böse glaubten und auch danach handelten? Was machen wir mit Menschen, die sich von realitätsverzerrenden, demagogischen  Heilsversprechungen verführen liessen? Einmal ein Nazi, immer ein Nazi? Werden Identitäten nicht sozial und kulturell konstruiert, sind also anfällig für Modifikationen? Möchten wir das Totalitäre mit Totalitarismus bekämpfen und Menschen mit ehemals nonkonformen Gedanken in eine lebenslange moralische und ethische Quarantäne stecken, damit wir sicher sind vor ungewünschten geistigen Infektionen? Sind die Bösen immer die Anderen – auch wenn sie unterdessen zu den Guten, zu uns, gehören?

Schlechte Demokraten und Charaktere

Eine weitere Fragestellung ist die Unterscheidung zwischen Leben und Werk. Wenn man die Logik dieses Urteils weiterspinnt, dürfte auch Heidegger nicht mehr gelehrt werden, da er Mitglied in der NSDAP war. Trotzdem durfte Heidegger nach dem zweiten Weltkrieg, und einer kurzen Pause, seine Tätigkeit an der Universität wieder aufnehmen. Zudem wird der „Ex-NaziMartin Heidegger noch immer gelehrt an den Hochschulen dieser Welt. Hier wurde und wird unterschieden zwischen dem Denker und dem Denken.

Ein anderes Beispiel ist der norwegische Literatur-Nobelpreisträger Knut Hamsun, der in Adolf Hitler einen grossen Reformator der Menschheit sah. Seine Bücher sind trotzdem grosse Literatur. Oder was ist, um nur noch eine weitere Geistesgrösse zu nennen, mit Günter Grass?

Über Knut Hamsun habe ich einmal irgendwo gelesen, er sei ein schlechter Demokrat, aber ein grossartiger Literat gewesen. Jean-Paul Sartre (einstmals ein Anhänger Stalins…) war ein Bewunderer von Heideggers Denken, hat den Menschen Heidegger aber dennoch eines schlechten Charakters bezichtigt. Auch (ehemals) schlechte Demokraten und Charaktere scheinen also in der Lage zu sein, geistreiche Denkarbeit zu verrichten und zu vermitteln – jenseits von Gut und Böse.


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