Giorgio Vasta: „Die Glasfresser“

Ein Kampf um des Kampfes willen

Giorgio Vasta: „Die Glasfresser“ (Roman)

Giorgio Vastas Roman „Die Glasfresser“ erzählt die Geschichte von drei elfjährigen, anscheinend hochbegabten Fanatikern im Palermo von 1978. Inspiriert von den Roten Brigaden führen sie „politische“ Aktionen aus und schrecken auch vor Gewalt an Menschen nicht zurück. Mit einer Sprachgewalt, die einem kalte Schauer über den Rücken jagt, gleichzeitig aber auch die Krux des Romans darstellt, führt Vasta vor Augen, wohin eine fehlgeleitete jugendliche Begeisterung führen kann.

Von Lisa Letnansky.

GlasfresserIhre Kampfnamen sind Nimbus, Flug und Strahl, sie sind elf Jahre alt, gehen zusammen zur Schule und sind Verbündete in ihrer Ideologie. „Klar denkend, abgesondert, feindselig. Elfjährige Zeitungsleser, Fernsehnachrichtenschauer. Beobachter des politischen Geschehens. Konzentriert und schonungslos. Kritisch, finster. Präadoleszente Aussenseiter.“ So beschreibt sie Nimbus, der Ich-Erzähler des Romans. Begeistert von den Roten Brigaden und empört über die Untätigkeit und Apathie ihrer Landsgenossen sind sie von dem Plan besessen, etwas zu ändern, die Leute aufzurütteln, nötigenfalls auch mit Gewalt. Während die restliche Bevölkerung von dem Bild des toten, in einem Kofferraum liegenden Aldo Moro in Angst und Schrecken versetzt wird, lassen sich die drei Freunde von dieser Tat inspirieren und beschliessen: „So müssen wir es auch machen!“

Gefühle verboten

Kaum ist dieser Entschluss gefasst, beginnen sie für den Ernstfall zu trainieren. Ohne sich über die Identität ihres Feindes wirklich im Klaren zu sein oder ihre genauen Ziele zu kennen, studieren sie die Zeitungen (vor allem die Bekennerschreiben der Roten Brigaden), üben das Observieren von Personen und entwickeln sogar einen eigenen Kommunikations-Code. Aufgrund ihrer Jugend sind sie für den Rest der Welt unsichtbar. Weder Nimbus’ Eltern, noch die Lehrer bemerken etwas von den Machenschaften und der entfesselten Begeisterung der Kinder. Überhaupt scheinen die drei keine tiefen emotionalen Beziehungen zu ihren Mitmenschen zu pflegen. Eine Ausnahme bildet da Wimbow, das „kreolische Mädchen“. Auf sie hat Nimbus ein Auge geworfen, sie fasziniert ihn und beherrscht oftmals seine Gedanken, auch wenn er es sich aufgrund seiner sich selbst zugeschriebenen Bestimmung zur Regel gemacht hat, niemals mit ihr zu sprechen oder Genaueres über sie zu erfahren: „Jedes Mal, wenn ich sie ansehe, wird mir ganz feierlich zumute, und ich verspüre ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit – genau jenes Bedürfnis, das der Kampf tagtäglich ausschliesst.“

Der Zweck heiligt die Mittel

Die ersten Aktionen, welche die drei Freunde durchführen, sind denn auch noch relativ harmlos; sie verfolgen wildfremde Menschen auf der Strasse oder stecken in der Schule einen Papierkorb in Brand. Doch bald sind sie von diesen Jungen-Streichen gelangweilt; beflügelt von dem Wunsch nach Anerkennung, nach dem Erhörtwerden und dem Verlangen, sich schuldig zu machen, werden ihre Taten immer gefährlicher und grausamer, bis sie auch vor der Gewalt an Menschen nicht mehr zurückschrecken. Geführt von einem blinden Glauben an ihre Ideologie scheinen sie diese Gewalt gar nicht als solche zu erkennen: „Gewalt, auch wenn dies ein Paradox scheint, ist nicht gewaltsam. Sie wird erst gewaltsam, wenn man sie schlecht gebraucht. Andernfalls ist es eine Ästhetik, ein Stil. Ein Projekt.“ Für sie heiligt der Zweck die Mittel, bei einem solch grossen Vorhaben wie dem ihren müssen nun einmal Opfer in Kauf genommen werden.

Die Gewalt der Sprache

Vasta erzählt diese Geschichte des kindlichen Erwachens politischer Gesinnung aus der Perspektive des elfjährigen Nimbus. Wie in einem Tagebuch berichtet dieser in der Gegenwartsform von den Dingen, die gerade in ihm vorgehen und von den geplanten und durchgeführten Aktionen. Nimbus’ Sprache, die von gewaltigen und gewalttätigen Metaphern und Vergleichen nur so strotzt, lassen auf jeder Seite den blinden Fanatismus des Jungen erkennen, zum Beispiel wenn er von seiner Abneigung gegen den Dialekt spricht: „Während wir uns unter die Leute mischen, sehen wir nur vom Dialekt zerfleischte Gesichter – der Dialekt explodiert in den Mündern und zerfetzt die Gesichtszüge, er wird erzeugt im Dunkel der familiären Bindungen, im täglichen Zusammenstoss, eine Stirn gegen einen Jochbogen, der Mund gegen die Schläfe.“ Es ist eine Sprache, die den Leser aufrüttelt und teilweise auch schockiert, sie nimmt ihn in ihre Gewalt und lässt ihn den Roman in einer fieberhaften Gier verschlingen.

Ein problematisches Alter

Genau diese Sprache ist aber auch das Problem des Romans. Natürlich sind Nimbus, Flug und Strahl keine gewöhnlichen Jungen, sie sind geistig frühreif und wahrscheinlich hoch begabt. Dennoch gibt es Momente, in denen man die sprachgewaltigen Formulierungen Nimbus einfach nicht abkauft. Das sind dann die Stellen, an denen er Worte wie „retikulär“ oder „zyanotisch“ gebraucht, oder von seiner Verehrung für die Roten Brigaden spricht: „Sie geben dem Immateriellen Materie, der Schale einen Kern und der Trägheit einen Impuls. Sie haben die politische Drüse des Landes entfernt und zwingen Italien jetzt, sie wahrzunehmen.“ So soll ein Elfjähriger sprechen? Dreizehn oder Vierzehn vielleicht, aber Elf?

Doch auch wenn dieser Sachverhalt den Roman etwas ins Unglaubhafte hinein zwingt, tut dies der Brisanz von Vastas Geschichte und seiner Botschaft keinen Abbruch. Wo eine jugendliche, fehlgeleitete Begeisterung auf Bereitschaft zur Gewalt stösst, herrscht Gefahr, in den 70er-Jahren genau so wie heute.


Titel: Die Glasfresser
Autor: Giorgio Vasta
Übersetzer: Ulrich Hartmann
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt
Seiten: 320
Richtpreis: CHF 30.90

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