Andrea Levy: „Das lange Lied eines Lebens“
Ein Sklavenleben
Andrea Levy: „Das lange Lied eines Lebens“ (Roman)
In ihrem neuen Roman lässt Andrea Levy eine ehemalige Sklavin ihr Leben erzählen und damit eine Geschichte von Sklaven und ihren Herren, von der grossen Kluft zwischen den Menschen, von Gewalt und Unmenschlichkeit. Bemerkenswert ist dabei vor allem der Ton, den Levy findet, um ihrer Erzählerin Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Von Sandra Despont.
Mit „Das lange Lied eines Lebens“ erschreibt sich Andrea Levy eine Vergangenheit, die nicht ihre eigene und doch eng mit ihrer jamaikanischen Herkunft verknüpft ist. Sie lässt eine alte Frau eine Geschichte, ihre Geschichte, erzählen, die ihr „dick und fett in der Brust sass“. Trotz den Bedenken ihres Sohnes, der ihr immer wieder Taktlosigkeit vorwirft, schreibt sie so geradeheraus, wie sie spricht, und ohne in der Art weisser Ladys ihren Lesern „Torheiten in den Kopf zu rülpsen“. Wer sich nicht auf den derben Tonfall Julys, so der Name der alten Frau, einlassen möge, solle sich an die zahlreichen Bücher wenden, in denen die Worte „frei und ungehindert fallen wie die Kotballen, die aus dem After eines Maultiers plumpsen“. Wie ernst July es damit meint, ihre Geschichte zu erzählen, ohne kostbare Worte auf müssige Naturbeschreibungen und alberne Klagen zu verwenden, erfährt man als Leser sogleich.
Aus July mach Marguerite
Es beginnt mit Julys Zeugung. Kitty, Julys Mutter, könnte sich mit ein bisschen Fantasie fast einbilden, dass der Aufseher Tam Dewar sie nur von hinten angerempelt hat; doch der Stoffballen, den sie in der Hand hält, spricht von einer wie nebensächlich vollzogenen, mit ein bisschen Stoff abgegoltenen Vergewaltigung. Und Kitty muss dafür auch noch dankbar sein, denn sie ist eine einfache Feldsklavin auf der Plantage ihres Massa. Dem Wurm, das neun Monate aus ihr herauspurzelt, ist ein anderes Schicksal bestimmt. Der Zufall will es, dass die Schwester des Massa, eine unglaublich massige, verwöhnte Frau namens Caroline, Kitty und ihr kleines Kind auf dem Weg in die nächste Stadt entdeckt, aufhält und sich in das kleine, süsse Kind verliebt. Sie nimmt July mit Zustimmung ihres Bruders, und selbstverständlich ohne Kitty zu fragen, kurzerhand mit, macht sie zur Haussklavin und zu Marguerite, da sie den Namen eines Monats für ein kleines Mädchen äusserst unpassend findet. Ihre Mutter sollte July erst Jahre später wiedersehen.
Literarische Geschichte von unten
Die Lebenslinien von Mutter und Kind treffen sich erst während einer Zeit der Unruhe wieder, als von der Abschaffung der Sklaverei die Rede ist, als einige Schwarze mit der Freiheit ernst machen wollen, als die einstigen Herren ihr bequemes Leben plötzlich bedroht sehen. Die Ereignisse dieser Zeit werden von Andrea Levy jedoch wie nebenbei geschildert. Sie sind nicht wichtig, weil sie zentrale Eckpunkte in der jamaikanischen Geschichte darstellen, sondern weil sie das Leben der Protagonistin in „Das lange Lied eines Lebens“ entscheidend verändern. Der Freiheitskampf der Sklaven, die wachsende Überzeugung, dass auch Schwarze Menschen sind und die Rechte von Menschen geniessen sollten, die dramatischen Ereignisse und Entwicklungen ihrer Zeit bekommt July bloss am Rande mit. Sie ist keine Vordenkerin, keine Aktivistin, keine Kämpferin für Prinzipien, sondern eine einfache Frau, die sich mit Tatkraft, List und Mut durchs Leben schlägt. Durch diesen konsequenten Ansatz einer literarischen Geschichte von unten gerät Levys Roman nie in den Verdacht, ein Roman mit politischem Programm zu sein, etwas beweisen oder die wahre Geschichte der Sklaverei und ihres Endes in Jamaika umfassend und endgültig präsentieren zu wollen. „Das lange Lied eines Lebens“ behält so seine Ecken und Kanten, die den Roman zu einer herausfordernden Lektüre machen. Mit der pragmatischen, oft auch selbstbezogenen und zutiefst unaufgeklärten July lässt es sich um einiges weniger bequem leben als mit einer strahlenden Freiheitsheldin.
„Bin ne Mulattin. Keine Negerin nich’“
Ohne Empörung, ohne auf die Tränendrüse zu drücken, dafür mit sachlicher Direktheit erzählt July von ihrem Leben als Haussklavin, erzählt von den täglichen kleinen Demütigungen im Sklavendasein, von härtester Arbeit auf dem Feld, die Kittys Muskeln so hart machen, dass ihre Beine wie Baumstämme wirken, sie erzählt von Menschen, die sich entblössen müssen, wenn man es von ihnen verlangt, die berührt und vergewaltigt werden dürfen, wenn einem Weissen danach ist, die nicht ohne Passierschein in die nächste Ortschaft gehen dürfen, deren Kinder nicht zu ihren eigenen Angelegenheiten gehören. Sie lässt aber auch das Unbehagen der Weissen in einer feindlichen Umwelt aufblitzen, schildert lebhaft den beharrlichen Kleinkrieg, den die Sklavenschar gegen ihre Herrschaft führt, gibt Einblick in die rauen Lebensumstände und groben Umgangsformen unter den Sklaven. Mitleid, so scheint es, gibt es in dieser Welt nur in seltensten Fällen. An der Tagesordnung sind stattdessen Eigennutz auf Kosten anderer, Berechnung und nicht selten rohe Gewalt. Auch die Haussklavinnen schenken sich nichts. Wecken tut man einander mit Ohrfeigen oder indem man dem anderen kleine Steinchen in den geöffneten Rachen wirft. Nein, es ist keine schöne Welt, die July vor den Augen der Leser entstehen lässt. Allzu oft möchte man „Das lange Lied eines Lebens“ weglegen, angewidert von so viel Borniertheit auf Seiten der Weissen wie der Schwarzen, von der Unbarmherzigkeit einer Welt, in der die Sklaven die Wertmassstäbe ihrer Herren so weit übernehmen, dass sie selbst die besten Rassisten werden. So entzückt July nichts mehr als der Gedanke, Zugang zu Miss Claras Tanzveranstaltungen zu finden, auf denen nur Frauen ohne Krausehaar, Wulstlippen und Ebenholzhaut zugelassen werden. Wie wird nicht müde, zu beteuern sie sei „’ne Mulattin. Keine Negerin nich’.“
Lebenserfindung
Obwohl man ihm die gründliche Recherche und die genaue Sachkenntnis anmerkt, ist „Das lange Lied eines Lebens“ kein Buch über die Sklaverei. Es ist vielmehr ein Lebensbericht, eine Lebensbeichte, eine Lebenserfindung, von einer ehemaligen Sklavin ohne jede Weinerlichkeit vorgetragen. July ist, zum Glück, kein armes, unterjochtes, um Mitleid heischendes Geschöpf, sondern eine durchaus selbstbewusste Frau, die ihr Schicksal geradlinig und mit derbem Humor in Worte fasst – Immer auch gegen den Widerstand ihres Sohnes, der über die gnadenlose Direktheit seiner Mutter längst nicht immer beglückt ist und versucht, ihr kommentierend und tadelnd zur Seite zu stehen. Selbstverständlich bleibt es bei dem Versuch, denn eine so robuste Frau wie July, wird sich kaum von einem schöngeistigen Buchdrucker von ihren Taktlosigkeiten abbringen lassen. So würde man, wäre denn die Lebensgeschichte authentisch, vielleicht von einem ungeschliffenen Juwel sprechen, denn Andrea Levy imitiert Tonfall und Denkweise einer einfachen Frau, die gleichzeitig etwas grobschlächtig, und doch mit einer genauen Beobachtungsgabe ausgestattet ist, so glaubhaft dass die Konstruiertheit des Romans völlig aus dem Blick gerät. Dieses meisterhafte Einnehmen einer so herausfordernd anderen Perspektive mag es gewesen sein, was dem Roman Levys eine Nomination für den Man Booker Preis 2010 eingebracht hat. Verdient hat das die Autorin allemal.
Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autorin: Andrea Levy
Übersetzer: Hans-Christian Oese
Verlag: DVA
Seiten: 368
Richtpreis: CHF 30.90