„Live aus PEEPLI. Irgendwo in Indien“ von Anusha Rizvi

Selbstmord (LIVE)

„Live aus PEEPLI. Irgendwo in Indien“ von Anusha Rizvi

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Eine unterhaltsame Medien- und Politsatire aus Indien, frei von kitschigen Bollywood-Künstlichkeiten und auch ohne die atemlose und überästhetisierte Romantik von „Slumdog Millionaire“. Mit reichlich schwarzem Humor und einer Prise sozialkritischer Melancholie hinterfragt Anusha Rizvi in ihrem Filmdebüt die perversen Mechanismen der Medienindustrie.

Von Garabet Gül.

Indische Filme oder solche über Indien sind bei uns nicht sehr verbreitet, sie gehören im Angebot exotischer Grenzerfahrungen nicht zum primären Kanon der europäischen und angelsächsischen Unterhaltungsindustrie. Das indische Kino wird in erster Linie mit dem sogenannten Bollywood assoziiert, dem asiatischen Pendant der US-amerikanischen Traumfabrik. Im Gegensatz zu den Sehnsüchten, die an der Westküste der Vereinigten Staaten produziert werden, besitzen die Streifen aus Indien jedoch kaum globale Ausstrahlungskraft. Mit dem Film „Lagaan“ (2001), der auf gewohnte Bollywood-Manier die britische Kolonisation thematisiert, schaffte es hingegen ein indischer Film über die Landesgrenzen hinaus Zuschauer ins Kino zu locken und für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert zu werden. Der Produzent und Hauptdarsteller von „Lagaan“, Aamir Khan, hat auch „PEEPLI“ produziert, der ebenfalls für den Auslandoscar nominiert ist. Dort wo „Lagaan“ exotische Unterhaltung bleibt und sich, sowohl ästhetisch wie inhaltlich, vor allem innerhalb des indischen Kontextes bewegt, sprengt „PEEPLI“ den nationalen und kulturellen Rahmen, indem er mediale Anomalien hinterfragt, die auch im Westen sehr ähnlich funktionieren.

Der Mensch als Story

Den Hintergrund der Satire bildet, wie so oft, ein ernstes Thema. Die Suizidrate unter den indischen Landwirten ist erschreckend hoch. Gemäss offiziellen Zahlen sollen sich zwischen 1997 und 2007 über 180.000 Bauern umgebracht haben. Auch heute noch wird von über fünfzehntausend Selbstmorden pro Jahr ausgegangen, deren Ursachen vor allem auf klimabedingte Ernteausfälle und den globalisierten Saatgutmarkt zurückgeführt werden. Die indische Regierung hat angesichts der Besorgnis erregenden Problematik sogar eigens einen Fond für Hinterbliebene eingerichtet. Soweit die realen sozialen Gegebenheiten.

Auch im Film leidet die Landwirtschaft unter den schwierigen ökologischen und ökonomischen Bedingungen.  Die Bauern Natha und sein älterer Bruder Budhia können nicht genug aus ihrem Ackerland in Peepli erwirtschaften, um die Raten eines Staatsdarlehens zurückzubezahlen. Auf der Suche nach Unterstützung gelangen sie an einen zynischen Lokalpolitiker, der sie dazu anspornt, Selbstmord zu begehen, damit die Familie in den Genuss des Regierungs-Fonds kommt. Der ledige Budhia findet Gefallen an dem Gedanken und schafft es, seinen Bruder Natha zu überzeugen, sich umzubringen und dadurch seiner Frau und seinen beiden Kindern zu helfen. Der apathische Natha willigt ein  – der Selbstmord verkommt zu einer Verdienstmöglichkeit.

© Studio / Produzent
© Studio / Produzent

Als nun am Vorabend der nationalen Wahlen zufällig ein lokaler Journalist von Nathas Selbstmordplänen erfährt und am nächsten Tag in der Zeitung darüber berichtet, überstürzen sich die Ereignisse. Nathas Vorhaben wird zum Dreh- und Angelpunkt der Wahlberichterstattungen. Sein Haus mutiert zu einem Medienzentrum, dutzende von Fernsehstationen stellen ihr Lager auf und begleiten Natha den ganzen Tag: 24 Stunden haarsträubende Direktübertragungen rund um DAS Ereignis. Das ganze Land ist bewegt und fragt sich, wie wenn es sich um einen Wettbewerb handeln würde, ob Natha sich umbringt oder nicht. Als dann noch die Politik den Selbstmordkandidaten für ihre Zwecke zu instrumentalisieren beginnt, wird endgültig klar: Natha ist nur eine Story, die konsumiert wird. Es geht lediglich um die Sensation und nicht um den Menschen.

Satire zwischen Nähe und Distanz

Wie bei Bollywood-Produktionen wird auch „PEEPLI“ von viel Musik getragen. Doch statt für folkloristische Musical-Einlagen wird hier die emotionale Unmittelbarkeit der Musik anderweitig eingesetzt. Melancholische Lieder über die Inflation, den Tod und die Liebe verleihen dem satirischen Ton des Films eine schwermütige Komponente. Dieses Gefühl wird durch einen Bruch im Drehbuch akzentuiert: Der Reporter, der die ganze Sache losgetreten hat, entdeckt sein journalistisches Gewissen. Eine solche Stimmungserweiterung mag die Leichtigkeit der Satire gefährden, doch neben bitterbösem Klamauk sollte bei satirischen Darstellungen immer auch ein Rest an seriöser Dringlichkeit bewahrt bleiben, möchte die Satire nicht zur blossen Comedy verkommen.

Was auffällt und vielleicht zum Zweck einer authentischen Darstellung gewählt wurde, ist die sehr enge Kameraführung. Das Auge der Kamera und gleich hinter ihr diejenigen des Betrachters  sind meistens sehr Nahe bei den Dingen und den Darstellern. Als möchte die Regisseurin den Zuschauer daran hindern, die Perspektive eines Aussenstehenden, den Blick des Voyeurs aus dem sicheren Kinosessel, einzunehmen. Der Zuschauer soll die filmische Realität miterleben und nicht nur konsumieren. Eine solche Nähe ist nicht unproblematisch, sie kann dazu führen, dass durch eine zu starke Involvierung des Betrachters in das Geschehen der Abstand abhanden kommt, der für eine kritische Beurteilung des thematischen Hintergunds der Satire unabdingbar ist.

Am Schluss aber schafft die Kamera Distanz, verlässt das Dorf und begibt sich zitternd auf einen Trip in die Stadt und endet mit Aufnahmen von einer Baustelle, wo Bauern den Wohlstand der Anderen bauen. Die Landflucht als Alternative zum Selbstmord. Was macht wohl Natha? Wie endet seine Story?


Seit dem 2. Juni 2011 im Kino.

Originaltitel: PEEPLI (LIVE) (Indien 2010)
Regie: Anusha Rizvi
Darsteller: Omkar Das Manikpuri, Raghuvir Yadav, Malaika Shenoy, Shalini Vatsa, Nawazuddin Siddiqui, Farukh Jaffer, Vishal Sharma.
Genre: Medien-und Politsatire
Dauer: 107 Minuten
CH-Verleih: Trigon

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