Angelika Overath: „Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch“

Heimat gefunden? Sich hineinwachsen lassen

Angelika Overath: „Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch“

Das Feriendorf zum Lebensort zu machen, ist und bleibt mutig. Angelika Overath wagte den Schritt Ende Juli 2007. Zusammen mit Mann, jüngstem Kind und Hund zog sie von Tübingen in das Bergdorf Sent im Unterengadin. Einem Vorschlag des Luchterhand Verlags folgend legt sie nun das Tagebuchprotokoll dieser Lebensveränderung vor.

Von Alexandra Campana.

AlleFarbenDesSchneesDas Leben folgt eindeutig ganz eigenen Rhythmen in dieser Dorfgemeinschaft, die nicht nur den 24. Dezember jeweils gemeinsam feiert. Allmählich gewöhnt sich die Auswandererfamilie an diese Rhythmen und lernt unter anderem, dass man während der Jagdtage, „egal für welchen Auftrag, keinen Handwerker bekommt“. Seite für Seite begleitet man die Autorin bei ihrer Eingliederung in dieses Dorfleben – bei der Teilnahme an Veranstaltungen in der „Grotta da cultura“ ebenso wie beim regelmässigen Chorsingen. Und über all dem liegt während vieler Monate des Jahres der Schnee, der auch das lesende Auge allmählich empfindlich macht und die weisse Umgebung farblich schimmern lässt: „Die bunten Schatten nehmen zu, je länger es weiss bleibt.“

Die Sache mit der Heimat und dem Heimweh

Obwohl der Alltag aber langsam „flächig“ wird, verschwinden die Berge nicht aus dem Blickfeld. Vielmehr werden sie „ein Gegengewicht zu den Zeilen“, das die literarische Produktion antreibt. Eine Produktion, die auch Auseinandersetzungen mit Fragen nach Heimat und Fremde, Identität und Entwurzelung bedeutet. Denn trotz ihrer vielen Reisen für Lesungen und Gastdozenturen kehrt die Autorin immer wieder in das Unterengadiner Bergdorf zurück. In diese Wahlheimat, in der plötzlich Anfänge ganz unterschiedlicher Art möglich sind. Erst hier etwa gelingt es ihr, mit dem Klavierspielen zu beginnen. Erst hier findet sie den Mut, sich diesen Kindheitstraum zu erfüllen; und die Hartnäckigkeit, trotz musikalischer Rückschläge weiterzumachen.

Und doch, ein Rest von dieser schwer zu definierenden Lücke bleibt. George Tabori habe in einem Radio-Interview einmal behauptet, keine Heimat zu haben, was eine gute Sache sei: „Weil ein Schriftsteller muss ein Fremder sein.“ Overath gibt an, diesen Satz zu mögen. Literarische Reflexionen über Dazugehörigkeit, so scheint es, verlangen nach der Erfahrung des Nichtzugehörens; oder ist eine letzte Passung grundsätzlich ausgeschlossen? Der rätoromanische Ausdruck für „Heimweh haben“ sei „as laschar increscher“, wörtlich: „sich hineinwachsen lassen.“ Während man sich also in die neue Heimat „hineinwachsen“ lässt im Zuge allmählicher Eingewöhnung, bleibt das Heimweh – als ein Sehnen nach etwas, das sich örtlich nicht festmachen lässt – bestehen.

Herausforderung ‚Sprache‘: Lyrische Annäherungen auf Rätoromanisch

Fremd muss für eine lange Zeit vor allem auch die Sprache bleiben. Die vierte Landessprache der Schweiz verlangt der Autorin aktive Spracharbeit ab, da ihr das Rätoromanische eben nicht zufällt wie eine Muttersprache. Während der Sohn Matthias, der erst ab der vierten Klasse Deutschunterricht erhalten wird, bereits besser Romanisch schreibt als Deutsch, will die neue Sprache in der Mutter nur langsam einsinken. Die Erfahrung, dass ihr die Sprache fehlt und sie den Sprung ins Gespräch oft nicht schafft, ist daher allgegenwärtig: „Wäre manchmal Schweigen Heimat?“

Das Verfassen von Gedichten, so Overath, sei ein Gespräch mit der Sprache. Vor dem Schweigen also steht der Versuch, die Sprache selbst zum Antworten zu bringen. Das Ergebnis sind rätoromanische Gedichte, die insofern ein eigenes Recht beanspruchen, als sie sich nicht einfach ins Deutsche übersetzen lassen; unter anderem, weil Übersetzungsschwierigkeiten auf unterschiedliche Erfahrungsräume verweisen. „Poetry is what gets lost in translation“, zitiert die Autorin Robert Frost und schlägt als Erweiterung vor: „Heimat ist das, was sich nicht übertragen lässt.“

Keineswegs zu selbstbezogen

Mit „Alle Farben des Schnees“ legt Angelika Overath ein Buch vor, das in der Tat persönlich ist. Doch diese ganz eigene Welt in den Bergen, die sie schildert, ist auch und vor allem von Menschen bewohnt; und deren Geschichten und Träume kommen ebenso zu Wort wie die persönlichen Erlebnisse der Autorin. So ergibt sich das farblich schimmernde Bild eines Orts, der oft genug hinter den Bergen zu verschwinden droht. Zugleich wird mit sprachlicher Treffsicherheit ganz unaufgeregt Hochkomplexes verhandelt. Wer von diesem als Tagebuch bezeichneten literarischen Text steril-distanzierte Gegenstandsbeschreibungen erwartet, sollte freilich davon absehen, dieses Buch zu lesen. Wer sich jedoch darauf einlässt, wird irgendwann feststellen, dass all die Farben des Schnees beim Lesen zunehmend an Abstraktheit verlieren. Gerade so, als könnte man sich für die Dauer der Lektüre zusammen mit der Autorin zumindest ansatzweise in das Gelesene hineinwachsen lassen.


Titel: Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch
Autorin: Angelika Overath
Verlag: Luchterhand
Seiten: 256
Richtpreis: CHF 29.90

2 thoughts on “Angelika Overath: „Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch“

  • 18.09.2012 um 16:04 Uhr
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    Das Senter Tagebuch ist für mich die Erkenntnis, dass ich auf dem richtigen Weg als Autorin bin. Ich zog nach 30 Jahren in Süddeutschland einfach mal so an die Ostsee. Da ich 78 Jahre alt bin, war das ein nicht einfacher Schritt. Aber ich habe mich, wie auch schon Angelika Ovverath schrieb, nach einem halben Jahr sehr gut eingelebt und darüber geschrieben
    Mein Barth
    Das Städtchen Barth am Ostseestrand hab ich zur Heimat mir erkoren.
    Ich suchte lang in manchem Land, doch hab ich hier mein Herz verloren.
    Verloren an den Charme der Stadt, an kleine Häuschen, schmuck und fein,
    an`s Gotteshaus, das Würde hat und gluckenhaft sie treu hüllt ein.
    Am Wasser weil ich manchen Tag, ich lausche gern der der Möven Schrei,
    genieß die Luft, die gern ich mag, vergess den Alltag, fühl mich frei.
    Ein Gang durchs Städtchen lädt mich ein. Man trifft sich hier, man hat noch Zeit.
    Man spricht mich an, man lädt mich ein, das nächste Café ist nicht weit.
    Der Barther liebt Gemütlichkeit, ist gastlich, freundlich, heiter.
    Auch friedlich ist er allezeit, genügsam kommt er weiter.
    So leb ich nun als Bartherin vol Friede, Glück und heiter.
    Einst zog ich hoffnungvoll hier hin, jetzt bleib ich, ziehe nicht mehr weiter!
    Der Ort ist mein Zuhause nun. Die Stadt, der Wind, das Meer.
    Hier kann ich bleiben, hier nun ruhn. Gott führte liebevoll mich her.
    ——
    Ich denke, hier könnte ich auch mein Tagebuch führen. Angelika Overath hat mir den nötigen Ansporn gegeben. Danke!
    Ingrid Schmahl
    .

  • 11.01.2013 um 17:24 Uhr
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    Ursprünglich aus Scuol lebe ich seit meinem 6. Lebensjahr im Seeland. Das Tagebuch von Frau Overath war für mich sehr schön und interessant zu lesen. Ich habe mich ein bisschen daran erinnert gefühlt, wie es gewesen ist in meinen ersten Lebensjahren und wie es hätte sein können, wenn ich dort geblieben wäre.
    Ich fand das Buch sehr schön geschrieben und ich habe es sehr genossen. Leider war es zu schnell zu Ende..
    Vielen Dank Frau Overath!
    Claudia R.

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