NIFFF 2011 – Kritik zu „We need to talk about Kevin“

Ein Kind zu hassen

NIFFF 2011 – Kritik zu „We need to talk about Kevin“

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Das böse Kind, sei es als Antichrist in „The Omen“ oder als eiskalter Elternmörder in Tom Shanklands „The Children“, ist ein fruchtbares Motiv für Horrorfilme. In Lynn Ramsays brillianter Adaption von Lionel Shrivers Bestseller „We need to talk about Kevin“ entfaltet sich der Horror jedoch ohne Satansvaterschaft und Splattereffekte. Das schonungslose Drama über die dunklen Seiten des Eltern-seins ist harte Kost – aber auch einer der sehenswertesten Film des Jahres.

Von Lukas Hunziker.

Ihr Sohn Kevin ist kaum geboren, als Eva schon hoffnungslos überfordert ist mit ihm. Egal wie viel Zeit sie ihrem Baby widmet oder was sie mit ihm tut, der kleine Kevin schreit sich die Lunge aus dem Leib. Auf einem Spaziergang hält Eva minutenlang neben einer Baustelle, da das Geräusch des Presslufthammer das Geschrei übertönt und einen kurzen, absurden Moment der Erholung bietet. Sobald er seine Mutter zu verstehen beginnt, widersetzt sich Kevin ihr, weigert sich, mit ihr zu spielen, sie anzulächeln, oder auf irgendeine Art der Kommunikation mit ihr einzugehen. Bis ins Kindergartenalter trägt er Windeln und macht aus Trotz nochmals in die Hose, nachdem Eva ihn gerade gewickelt hat. Als sie das erste Mal die Fassung verliert und ihn gegen eine Wand stösst, bricht er sich den Arm. Anstatt zu weinen, lässt er seine Mutter mit einem Blick wissen, dass das der erste von vielen Siegen ist, den er gegen sie erringen wird.

Vater Franklin, dem Kevin die Aufmerksamkeit und Zuneigung entgegenbringt, die er seiner Mutter verweigert, kann je länger je weniger nachvollziehen, warum Eva dauernd über Kevins Verhalten klagt. Ihn umarmt der Junge, mit ihm lernt er im Garten Bogenschiessen, mit ihm spricht er, bei ihm entschuldigt er sich. Auch als Kevin das mit alten  Landkarten verzierte Büro seiner Mutter mit einer Farbpistole innerhalb von Sekunden ruiniert, nimmt der Vater ihn in Schutz – Kevin sei halt noch ein Kind, und Jungen seien halt impulsiv. Eva hingegen zweifelt nicht daran, dass Kevin es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, ihr das Leben zur Hölle. Und genau dies wird er kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag auch tun.

Ramsay und Swinton – A Match made in Heaven

Würde man am Ausgang sämtlicher Kinos, in welchen „We need to talk about Kevin“ gezeigt wird, eine ambulante Sterilisierungsstation einrichten, so würden wohl selbst die fortpflanzungswütigsten Möchtegernmütter und -väter dort Schlange stehen. Der Film hält  schonungslos vor Augen, was für ein Horror es sein muss, das eigene Kind zu hassen und sein Leben an dessen Laune und Bösartigkeit zu verlieren. Die schottische Regisseurin Lynn Ramsay, bekannt für ihre Filme „Ratcatcher“ und „Morvern Callar“, hat aus der erfolgreichen Romanvorlage ein bis ins kleinste Detail perfektes Drehbuch gezaubert und dieses mit viel visuellem Feingefühl verfilmt. Dass das Projekt in ihre Hände gefallen ist, ist ein Segen – denn in den Händen vieler anderer Filmemacher wäre die Adaption wohl zu einem kaum zu ertragenden, emotional überladenen Drama geworden.

Doch gerade die Abwesenheit jeglicher emotionaler Steuerung des Zuschauers macht den Film zu einem kleinen Meisterwerk. Nüchtern zeigt die Kamera Szenen aus Evas und Kevins gemeinsamer Vergangenheit, wobei sich die verschiedenen zeitlichen Ebenen immer wieder überschneiden und abwechseln. Doch nicht nur Drehbuch und Regie verdienen es, mit Lob (und hoffentlich zahlreichen Preisen) überschüttet zu werden. Seine Intensität hat der Film auch Tilda Swinton in der Hauptrolle zu verdanken, deren Darbietung schlicht phänomenal ist. In Cannes ist „Kevin“ leer ausgegangen, am NIFFF läuft er ausser Konkurrenz. Trotzdem, von diesem Film werden wir noch hören – spätestens in unserer Jahresbestenliste im Dezember.

Lukas Hunziker

Lukas Hunziker ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch. In seinem Garten stehen drei Bäume, in seinem Treppenhaus ein Katzenbaum. Er schreibt seit 2007 für nahaufnahmen.ch.

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