Albert Ostermaier: „Schwarze Sonne scheine“
Kunst und Krankheit
Albert Ostermaier: „Schwarze Sonne scheine“ (Roman)
Ganz in der Tradition der 70er-Jahre-Krankengeschichten zeigt Albert Ostermaier in seinem jüngsten Roman, was geschieht, wenn das Leben einer Person auf einmal von einer Diagnose beherrscht wird – ganz egal, wie handfest oder glaubwürdig diese auch ist. Den blinden Glauben an die Obrigkeit der Medizin und der Kirche beschreibt der Dichter in atemberaubenden, zuweilen pathologisch anmutenden Wort- und Metaphernergüssen.
Von Lisa Letnansky.
Sebastian, ein in München lebender Sohn aus guter Familie, führt ein Doppelleben. Einerseits studiert er Jura und lässt seine Eltern im Glauben, dass er später in das Familienunternehmen einsteigen und somit ein bodenständiges, verantwortungsbewusstes Leben führen wird; andererseits ist er mit Leib und Seele Schriftsteller, die Firma und das Studium sind ihm absolut gleichgültig. Nur kann er den Mut nicht aufbringen, seinen Eltern die Wahrheit zu sagen, das Studium abzubrechen und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Und als wäre dieses Dilemma für einen jungen Mann anfangs zwanzig nicht genug, taucht nun auch noch eine mysteriöse Ärztin auf, die ihm mitteilt, dass er todkrank ist, und sie die einzige ist, die ihn retten könnte.
Der Abt und die Ärztin
Höchstens noch ein halbes Jahr, länger würde er nicht leben, teilt sie ihm mit. Die Diagnose: ein sehr seltener, tödlicher Herpesvirus. Nur ihre Versuchsreihe mit noch nicht zugelassenen Medikamenten könne ihn retten, aber dafür müsse er nach Atlanta. Diese Nachricht erschüttert und verwirrt Sebastians Leben bis in die Grundfesten. Zwei Jahre zuvor war er zwar im Jemen gewesen und hatte sich dort eine Krankheit geholt, die niemand diagnostizieren konnte; inzwischen hat er aber schon längst keine Symptome mehr, es geht ihm gut! Und die mysteriöse Aura der Ärztin, die erst genial wie ein weiblicher Dr. House anmutet, dann aber immer undurchschaubarer und zweifelhafter wirkt, lässt ihn noch zusätzlich an der Richtigkeit ihrer Aussagen zweifeln. Der einzige Grund, warum er sie nicht einfach ignorieren kann, ist, dass sie von Silvester kommt, dem Abt und Familienfreund, der diese Frau zu vergöttern scheint und schon ihren Namen ausspricht, „als bete er zu Gott, als müsste er ihn singen, als sei sie das Heil“.
Blasphemische Gesundheit
Silvester ist Sebastians stärkste Bezugsperson aus Kindertagen, er war nicht nur sein Lehrer, er „war ein Vater, wurde ein Vater, der ein grosser Bruder wurde, ein Freund, ein Freund zum Pferdestehlen und Pferdezäumen, ein geistiger Vater, ein Vater meiner Gedanken, ein Sohnversteher und Mutterbesänftiger, ein Vaterland, das ich an ihm vermass.“ Aber nicht nur, dass Sebastian seinem Mentor niemals in den Rücken fallen könnte, er würde in seinen Augen damit auch die Kirche selbst angreifen, was in dieser ländlichen, katholischen Familienwelt einem Akt der Gotteslästerung gleichkäme. Gesund zu sein wäre in diesem Moment reine Blasphemie. Sebastian steckt nun also in einem weiteren Dilemma. Soll er der Ärztin glauben und sich in ihre Obhut begeben oder soll er sein Leben weiterleben, als wäre nichts gewesen?
Krankheit als Identitätsstifter
Die Diagnose und die ungreifbare Krankheit beherrschen von nun an Sebastians ganzes Dasein und stürzen ihn schliesslich in eine Identitätskrise. Hat er sich bisher über sein Wesen als Schriftsteller definiert, beginnt nun die Krankheit diese Stelle einzunehmen. Er beginnt die Angst vor dem Tod zu lieben als das Besondere, das ihn vor allen anderen auszeichnet und das, wenn er überlebt, den Anfangsakkord seines Werkes bezeichnen könnte. Bald sind für ihn Krankheit und Schreiben nicht mehr zu trennen, er beginnt sogar zu mutmassen, dass die Unterdrückung seines Schriftsteller-Daseins die Krankheit überhaupt erst verursacht haben könnte: „Ich wusste, dass ich meinen Kampf nicht verlieren wollte, nicht meine Kunst nach innen treiben wollte, bis sie Metastasen statt Metaphern trieb.“
Diese Verbindung von Krankheit und Kunst, die in der Literatur der 70er und 80er Jahre sehr populär war, greift Ostermaier in „Schwarze Sonne scheine“ wieder auf, verbindet sie zusätzlich mit der Übermacht und Unantastbarkeit der Kirche und lässt schliesslich das Verwirrspiel der Ärztin sogar noch in eine krimiartige Verschwörungsgeschichte ausufern. Das sind viele tiefgreifende Aspekte, die auf den ersten Blick nur schwierig unter einen Hut zu bringen sind.
Krankhafte Sprache
Was Sebastians Geschichte jedoch im Innern zusammenhält, ist die unglaublich bildhafte, poetische und einnehmende Sprache des Lyrikers Ostermaier. Hier traut sich ein Autor endlich wieder einmal etwas, indem er über die Grenzen des zeitgenössischen Mainstream-Stils nicht nur hinweggeht, sondern diese buchstäblich zu zertrümmern scheint. Denn nicht nur Sebastians Dasein ist von Krankheit gezeichnet, auch die Sprache des Romans ist zeitweise von höchst pathologischer Natur: „Ich stand am Fenster, Wolkenbänder lagen wie Mullbinden auf dem Himmel, Sonneneiter floss an ihren Rändern ins Grau.“ Die Krankheit ist jedoch nicht einfach nur unterschwellig immer anwesend, sie dringt gewaltsam in ein junges Leben ein, lässt Selbstmordgedanken aufflackern und speist diese Gewalttätigkeit in Sebastians Vorstellungswelt genauso wie in seiner Sprache: „Wie lange musste ich diese Ungewissheit noch ertragen? Wie konnte ich sie beenden? Wenn ich selbst ein Ende machen würde, einen Schlussstrich über den Kehlkopf ziehen, eine tiefschürfende Zeile über die Pulsadern, ein Komma in den Kopf und drei Punkte für das Herz.“
Sebastians Kampf gegen die symptomlose Krankheit und alle äusseren Einwirkungen, die ihn von seinem eigentlichen Lebensziel abhalten, ist eine sprachliche Sensation. Mitreissend und aufwühlend, voller Poesie und wagemutiger Gedankengänge, ist „Schwarze Sonne scheine“ unbedingt lesenswert für jeden, der in der heutigen Literatur das Aussergewöhnliche sucht.
Titel: Schwarze Sonne scheine
Autor: Albert Ostermaier
Verlag: Suhrkamp
Seiten: 288
Richtpreis: CHF 32.90