Monika Helfer: „Oskar und Lilli“
Zwei Kinder in Abgründen
Monika Helfer: „Oskar und Lilli“ (Roman)
Sie sind klug, anpassungsfähig und einsam. Monika Helfer lässt die Geschwister Oskar und Lilli Überlebensstrategien entwickeln und sich ihr Schicksal selbst erklären.
Von Noemi Jenni.
„Im Strassengraben gehen zwei Kinder. Hand in Hand. Ein Auto bleibt stehen. Ein Polizist steigt aus und leuchtet mit einer Lampe in den Graben hinunter. Der Schein trifft die Kinder mitten ins Gesicht.“ Mit diesen Worten beginnt Monika Helfer ihren Roman und schafft eine fesselnde Stimmung der Melancholie, die den Leser anzieht und bis zum Schluss nicht mehr loslässt.
Die Autorin erzählt die Geschichte von Lilli, neun, und ihrem Bruder Oskar, sieben. Von ihrer geisteskranken Mutter vernachlässigt, werden sie zu Fürsorgefällen und in verschiedene Pflegefamilien geschickt. Beiden wird mitgeteilt, die Familien seien nur Übergangslösungen. Die Kinder, die nur einander hatten und nur einander vertrauten, müssen sich neu orientieren.
Oskar kommt in eine fleischlos und salzarm lebende Lehrerfamilie mit Kleinkind und der schwerkranken Grossmutter Erika – die einzige Person, zu welcher er eine Beziehung aufbaut. Oskar sprüht nur so vor Ideen, wie er das Leben der alten suizidgefährdeten Frau erleichtern und interessanter gestalten könnte. Doch als Erika stirbt und das zweite Baby zur Welt kommt, ist in der Familie kein Platz mehr für ihn. Er bekommt ein neues Zuhause in einem Gasthof. Dort wird das gesamte Personal zu seiner Familie.
Lilli wohnt erst einmal bei der alleinstehenden Frau Rut. Sie fühlt sich bei der Frau wohl, hat aber grosse Probleme in der Schule, weil sie in ihrer Klasse keine Freundin findet, bis sie Betti und deren drogenabhängige Schwester Tschäin näher kennen lernt. Doch schon bald verliebt sich Rut in Nicki und für Lilli ist kein Platz mehr in ihrem Haus.
Kinderaugen und Erwachsenenprobleme
Beide Kinder sind viel alleine und erfinden ihre eigenen Welten. Äusserst beeindruckend entwickelt Monika Helfer die Persönlichkeiten mit individuellem Charakter und einer Gefühlswelt, die den Leser eintauchen und mitfühlen lässt. Selten treffen sich die Geschwister, denken aber viel aneinander. Beim Erzählen wechselt die Autorin immer wieder zwischen den Perspektiven der Kinder. Geschickt gelingt es ihr, aus Kinderaugen Begründungen und Interpretationen für die Familiensituationen zu skizzieren und glaubhafte, aus Erwachsenenperspektive oft komische Lösungsstrategien aus ihren Krisensituationen heraus zu entwerfen. Dabei lässt die Autorin nichts aus: Drogen, Suizidversuche, Adoptionsvortäuschungen, Mobbing in der Schule, Heimatlosigkeit und Identitätskrisen bilden die Puzzelteile im Leben der Kinder.
Feinfühlig und humorvoll spinnt Monika Helfer die Geschichte der Geschwister, bezaubernd wie ein Märchen, und doch realistisch und bestechend scharf. Der Roman ist mit seiner Melancholie wie gemacht für einen kalten Herbsttag, wunderbar poetisch und bildhaft.
Titel: Oskar und Lilli
Autorin: Monika Helfer
Verlag: Deuticke
Seiten: 256
Richtpreis: CHF 26.90