Julian Barnes: „Vom Ende einer Geschichte“
Reise in die Vergangenheit
Julian Barnes: „Vom Ende einer Geschichte“ (Roman)
Erinnerungen können trügen. Das muss Julian Barnes‘ Protagonist Tony am eigenen Leib erfahren. Indem eine vierzig Jahre alte Geschichte neu aufgerollt wird, lässt Barnes seinen Helden die Unzulänglichkeiten des menschlichen Erinnerungsvermögens erkennen und stellt so jede Autobiographie in ein neues Licht.
Von Lisa Letnansky.
„Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen“, zitiert Adrian Finn in einer Geschichtsstunde den fiktiven Franzosen Patrick Lagrange. Adrian ist vor kurzem neu in die Klasse gekommen und hat mit Colin, Alex und Tony auch rasch Freunde gefunden. Ein wenig ernster und intellektueller als seine Altersgenossen, inspiriert er sie zu langen Diskussionen und der ständigen Interpretation ihrer Umwelt. Vor allem Tony, der Ich-Erzähler von „Vom Ende einer Geschichte“, ist fasziniert von seinem neuen Freund und muss schliesslich erkennen, dass Adrians Zitat über die Entstehung von Geschichte auch auf das alltägliche Leben des kleinen Bürgers anwendbar ist.
Der Held der Jugend
Im Mittelpunkt von Julian Barnes‘ neustem Roman steht der mittlerweile sechzigjährige Tony, der sich an seine Schul- und Jugendzeit erinnert. Ausgelöst durch einen mysteriösen Brief und eine damit verbundene Erbschaft, beginnt für ihn eine Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit, die schliesslich in einer Art Obsession endet. Denn Adrian, der bewunderte Schulkamerad, war damals mit einem Mädchen zusammen, von dem sich Tony selbst erst kurze Zeit zuvor getrennt hatte, und nahm sich nur wenig später das Leben. Scheinbar überlegt und besonnen wies er das Geschenk des Lebens, um das er nicht gebeten habe, zurück, wie er in seinem Abschiedsbrief klarstellte. Tony und seine Freunde waren sich erst unschlüssig, ob sie Adrians Tat beeindruckend oder dumm finden sollten, aber auch vierzig Jahre später verklärt sich Tonys Erinnerung an den Selbstmörder in ein Bild des jugendlichen Helden, der das Leben und die Zusammenhänge viel klarer erkannte als alle anderen.
Erinnerungen = Ereignisse + Zeit?
An dieser Vorstellung zweifelte Tony zeit seines Lebens nie. Erst eine Nachricht der Mutter des besagten Mädchens bringt die scheinbar so klaren Erinnerungen ins Wanken. Wie hatte sich das damals eigentlich genau abgespielt? Konnte er sich sicher sein, dass es wirklich so war, wie er immer geglaubt hatte? Diese Vorstellung lässt Tony nun nicht mehr los, er kramt in seinen Erinnerungen, liest alte Briefe und stellt Nachforschungen an. Langsam muss er erkennen, dass die „Annahme, dass Erinnerungen Ereignisse plus Zeit sind“, viel zu bequem ist, und dass, „je länger das Leben andauert, es desto weniger Menschen gibt, die unsere Darstellung infrage stellen, uns daran erinnern können, dass unser Leben nicht unser Leben ist, sondern nur die Geschichte, die wir über unser Leben erzählt haben“.
Diesen Suchprozess nach der eigenen Geschichte erzählt Tony nun einem nicht näher bezeichneten Gegenüber auf eine ganz unsentimentale und liebenswürdige Weise, verliert sich mal schwadronierend in amüsanten Anekdoten oder teilt ironische Seitenhiebe gegen sich selbst und seine Umwelt aus. Sachlich zerlegt er die Verblendungen und Überheblichkeiten der Jugend, entwirft ganz nebenbei ein Porträt der Klassengesellschaft im London der sechziger Jahre, legt die Bequemlichkeit und Passivität des Alters bloss und zersetzt so Stück für Stück die Vorstellung von der Unantastbarkeit einmal festgelegter Erinnerungen.
Ein schmales Buch mit grossen Nachwirkungen
Die Wirkung lässt auch nicht lange auf sich warten: Unweigerlich legt man das Buch von Zeit zu Zeit kurz weg, um sich selbst bestimmter Begebenheiten zu entsinnen und sich zu fragen, ob diese Erinnerungen wohl bei allen Involvierten ähnlich seien, oder ob das, was man als seine Vergangenheit bezeichnet, nur Erinnerungen sind, die die Zeit zu Gewissheiten verzerrt hat – ein Gedanke, der eine interessante Rolle spielen könnte, wenn man das nächste Mal eine Autobiographie aufschlägt.
„Vom Ende einer Geschichte“ nimmt den Leser also nicht nur mit auf die Reise in Tonys Vergangenheit, sondern auch immer in die eigene – eine bemerkenswerte Wirkung eines nur 192 Seiten starken Romans, für den Barnes 2011 zu Recht mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde.
Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autor: Julian Barnes
Übersetzerin: Gertraude Krueger
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seiten: 192
Richtpreis: CHF 27.90