Lukas Bärfuss „Zwanzigtausend Seiten“ | Schiffbau/Box, Zürich
Wozu das ganze Spektakel?
Lukas Bärfuss „Zwanzigtausend Seiten“ | Schiffbau/Box, Zürich

Nach „Malaga“ stellte Lukas Bärfuss mit „Zwanzigtausend Seiten“ sein zweites Auftragswerk für das Schauspielhaus Zürich im Schiffbau vor. In seiner gewohnten Manier wirft er auch hier moralische Fragen auf, diesmal nach der Verantwortung des Individuums und der Auseinandersetzung eines Landes mit seiner Vergangenheit.
Von Lisa Letnansky.
Im Film „Phenomenon“ wird George Malley (John Travolta) von einem geheimnisvollen Lichtstrahl erfasst und kann fortan in Sekundenschnelle ein Buch lesen und dazu noch dessen gesamten Inhalt behalten. In „Zwanzigtausend Seiten“ geschieht etwas Ähnliches, jedoch auf viel profanere Weise: Tony, einem jungen Lebemenschen, der sich bis anhin weder um Zukunft noch Vergangenheit Gedanken gemacht hat, fällt eines Tages eine Kiste Bücher auf den Kopf, woraufhin er deren Inhalt komplett auswendig kennt. Die Idee des Stücks ist also nicht ganz neu, aber durchaus vielversprechend, was zu einem Grossteil auch daran liegt, dass sämtliche besagte Bücher dasselbe Thema behandeln: die Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg.

„Man muss sich erinnern!“
Wie man sich vorstellen kann, wird Tony zunächst für verrückt gehalten und in eine Irrenanstalt verfrachtet. Seine Bemühungen, sich Glauben zu verschaffen, werden jedoch bald von einer tiefgreifenderen Problematik überschattet. Denn Tony, dem das Schicksal eines jungen jüdischen Flüchtlings, der aus der Schweiz deportiert worden war, nicht mehr aus dem Kopf gehen will, entwickelt eine regelrechte Obsession. „Man muss sich erinnern!“ lautet fortan sein Credo, „wir sind unglücklich, weil wir vergessen!“ Was folgt – die Suche nach einem Sprachrohr in die Öffentlichkeit – führt Tony von einem eigennützigen Profiteur zum nächsten, vom desillusionierten Geschichtsprofessor über einen aktivistischen Radiosender bis hin zu einer gross aufgezogenen Casting Show, und lässt seinen Wunsch nach Vergessen stetig wachsen.
Es ist also nicht nur das originelle Bühnenbild – ein rundum mit hunderten von Aktenordnern eingerahmtes quadratisches Versuchsfeld, in das die Zuschauer von allen Seiten wie Schaulustige oder Beobachter eines Experiments ihre neugierigen Blicke werfen können – das dem Publikum einen aussergewöhnlichen Theaterabend in Aussicht stellt. Lukas Bärfuss hat mit „Zwanzigtausend Seiten“ auch eine Story vorgelegt, die in mehrfacher Hinsicht über brisantes Potential verfügt: Die Frage nach Fluch oder Segen des Sich-Erinnerns, nach der Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg und jener des kleinen Bürgers in seinem Staat, und nicht zuletzt die Ausbeutung persönlicher Tragödien und ordinäre Freude am Fremdschämen im Privatfernsehen.

Über das Ziel hinausgeschossen
Doch der Regisseur Lars-Ole Walburg scheint (anders als bei seiner grossartigen Inszenierung von Dürrenmatts „Die Panne“ am Schauspielhaus) weder in das thematische Potential dieses Stücks noch in Bärfuss’ messerscharfe Sprache und subtile Komik grosses Vertrauen gefunden zu haben. Anders ist es nicht zu erklären, dass er aus dem Stück ein unnötig überbordendes Spektakel gemacht hat, das mit technischen Spielereien und massenhaft Requisiten immer wieder sich selbst aufmerksamkeitsheischend zu übertreffen versucht. Schlussendlich harmoniert die Inszenierung nicht mit dem Stück, sondern schiebt sich hüpfend, lärmend und armewedelnd davor wie ein dreijähriges Kind mit ADHS. Der Sinn beispielsweise des nicht komisch, sondern grotesk wirkenden Perücken-Spiels der Aktivistengruppe oder der zwar kurzen, aber scheinbar an beliebigen Stellen im Stück verteilten Ausdruckstänze, will sich den Zuschauern (oder mindestens der Verfasserin dieser Zeilen) nicht recht erschliessen.
Nicht das durchaus vorhandene Talent der Schauspieler – allen voran Sean McDonagh, der die Stimme seines Tony ständig auf meisterliche Weise sich nervös überschlagen lässt – ist es also, was die Begeisterung des Publikums zum Schluss in Grenzen hält, sondern dieses zu gewollt innovativ sein wollende Tamtam drum herum. Da treffen sich fragende Blicke und zuckende Achseln, und anstelle von Lobgesang hört man Sätze wie: „Het’s dir gfalle? Ja? Also, das muesch mer denn mal erkläre…“ Oder: „Wenn i gwüsst hett, dass de Schawinski da isch, hett i mi schöner azoge.“
Besprechung der Premiere am 2. Februar 2012.
Weitere Vorstellungen bis am 15. März 2012.
Dauer: ca. 2 Stunden, keine Pause
Regie: Lars-Ole Walburg
Bühnenbild: Robert Schweer
Kostüme: Nina Gundlach
Musik: Tomek Kolczynski
Licht: Markus Keusch
Dramaturgie: Andrea Schwieter
Besetzung
Sean McDonagh, Franziska Machens, Ursula Doll, Lukas Holzhausen, Klaus Brömmelmeier, Ludwig Boettger
Im Netz
www.schauspielhaus.ch