Zeruya Shalev „Für den Rest des Lebens“
Die Schwierigkeiten des Liebens
Zeruya Shalev: „Für den Rest des Lebens“ (Roman)
Chemda Horovitz, Witwe, Mutter zweier Kinder – Dina und Avner, beide verheiratet und mit eigenen Kindern – liegt nach einem Aufenthalt im Spital daheim im Bett. Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Trauer, Geburt und zu oft nicht mitgeteilte Liebe mischen sich in ihre Gedanken und Fantasien für den Rest ihres Lebens.
Von Jolanda Heller.
„Für den Rest des Lebens“ ist Zeruya Shalevs fünfter Roman. Und auch in diesem Buch der israelischen Schriftstellerin dreht sich alles um Liebe, zu viel Liebe, Beziehungen, schwierige Familienverhältnisse. Sprache und Themen entwickeln darin zuweilen ein solches Gewicht, dass einem das Buch schwer aufliegt, man es zwischendurch gerne für eine Weile weglegt. Von Leichtigkeit zu keiner Zeit eine Spur, und erst am Ende könnte es ein kleiner Lichtstrahl sein, der dort am Horizont aufblitzt.
Wenn Frauen zu sehr lieben
Der Rest des Lebens beschäftigt nicht nur Chemda Horovitz, die in einem Kibbuz aufgewachsen ist und die auch im Alter noch an der Uniformität des dortigen Lebens leidet, sondern auch ihre beiden Kinder Avner und Dina. Avner, heute Rechtsanwalt der palästinensischen Minderheit in Israel und zeitlebens der Liebling Chemdas, ist damals in die Ehe mit Schlomit gestürzt, um sich vor der Liebe seiner Mutter zu retten. Heute erdrücken ihn auch seine Ehe, die Gifteleien seiner Frau und die fehlende Liebe zu seinem älteren Sohn. Wie weiter in seinem halb gelebten Leben? Alles kommt ins Rollen, als er am Spitalbett seiner Mutter Zeuge einer Szene zwischen einem Mann und einer Frau wird. Wie Avner bei seinen Nachforschungen über das ihm so glücklich scheinende Paar herausfindet, stirbt der Mann an diesem Tag. Diese Begebenheit reisst Avner aus seiner Starre und macht ihn frei für Neues.
Dinas Tocher Nizan ist 15. Sie ist eine selbständige junge Frau geworden, die ihre Freiheit geniesst und bald an ihrem ersten Liebeskummer leiden wird. Die Leere, die die zunehmende Selbständigkeit ihrer Tochter hinterlässt, will Dina nicht mit dem Beenden ihrer Dissertation füllen, wie ihr Mann Gideon ihr rät, sondern mit einem zweiten Kind. Doch wie schon vor Jahren ist Gideon auch heute nicht bereit dafür: „Uns geht es doch gut so, warum sollen wir das aufs Spiel setzen?“, und wirft ihr später an den Kopf: „ein Kind wird dich nicht jünger machen, ein Kind wird dich nicht für die Fehler entschädigen, die du begangen hast, ein Kind wird uns nicht glücklicher machen, du kannst nicht ein armes Kind nehmen und ihm deine verrückten Erwartungen aufladen, mit denen es überhaupt nichts zu tun hat. Kurz gesagt, Dina, statt zu versuchen, vergangenes Glück zu rekonstruieren, das sowieso nicht zurückkommt, solltest du dich mit dem zufriedengeben, was du hast und zusehen, wie du deinem Leben so, wie es ist, etwas abgewinnen kannst.“ Sie kann es nicht, setzt viel aufs Spiel und weist in ihrer Sturheit Züge auf, die Gideon, ihr Mann, als „krank“ bezeichnet. Sie sind es auch, die das Lesen erschweren, man wünscht sich, dass diese Quälereien aufhören mögen.
Der Rest des Lebens beginnt mit der Geburt
Chemda ist der Ursprung des Lebens von Dina und Avner und der Mittelpunkt der Lebensgeschichten in diesem Buch. Sie ist fast ohne Mutter aufgewachsen, da diese meist in aller Welt unterwegs war, um Geld für die Gemeinschaft zu sammeln. Chemda war dort in ihren unverstandenen Geschichten um den See gefangen. Wieder und wieder zu einer solchen Geschichte ausholend, wurde sie von ihrem Vater ermahnt: „Das ist jetzt keine Zeit für Märchen, Chemdale, es ist eine Zeit für Taten“. Doch Chemda hatte nur Geschichten in ihrem Kopf. Stellte man ihr eine Frage, kam eine Geschichte hervor, „wie Dampf aus einem Dampfkochtopf hervorbricht, wenn man seinen Deckel öffnet“. Alle hielten sich fern vor ihr und ihr Vater verzweifelte: „Du musst zur Sache antworten, du musst ihnen in ihrer Sprache antworten, in einer Gruppe ist jeder Aussenseiter arm dran, warum musst du es dir immer so schwer machen?“
Ihre Geschichten schrieb sie nie auf, sie behielt sie im Kopf, obwohl schon ihre Mutter sie zur Niederschrift ermunterte. Auf dem Papier nie existierende Geschichten, auf die auch ihr späterer Mann Elik eifersüchtig war. Er, der von seinen Eltern aus Europa in den Kibbuz gesandt wurde, er, der seine Eltern nie wiedersah. Und auch jetzt, in diesem „Rest des Lebens“, schreibt sie die Geschichten nicht für ihre Kinder oder Grosskinder auf, sie schreibt sie mit ihren Fingern über dem Papier in die Luft.
Die Last der Liebe
Man sieht sich als Leserin in eine Familiengeschichte involviert, von der sich zu befreien schwer fällt. Das Aneinanderreihen und das Ineinanderfliessen der Monologe, von Erinnerungen und Gegenwartsbezügen von Chemda, Dina und Avner entwickeln eine enorme Intensität. Sie verschmelzen, weil die Leben der drei Hauptfiguren nicht voneinander zu trennen sind. Die ungelebte Liebe oder zumindest die einseitig gelebten Lieben aller sind (wie so oft) der fehlerhaften und fehlenden Kommunikation geschuldet. Wie sollte das auch möglich sein, bei einer Mutter, die in Geschichten und nur für sich zu leben verdammt war und zu der auch deren Eltern nicht durchdringen konnten. Wie schwer es doch oft ist, dem Schicksal, dem Fluch oder Segen zu entsagen oder diese anzunehmen.
Titel: Für den Rest des Lebens
Autorin: Zeruya Shalev
Verlag: Berlin Verlag
Seiten: 520
Richtpreis: CHF 34.90