„We need to talk about Kevin“ von Lynne Ramsay
Rotsehen
„We need to talk about Kevin“ von Lynne Ramsay
Basierend auf dem Bestseller von Lionel Shriver erzählt Lynne Ramsays Film We need to talk about Kevin die Geschichte einer Mutter, welche sich rückblickend fragen muss, inwiefern sie die dramatische Charakterentwicklung ihres Sohnes zu verantworten hat. Während dieses fast zweistündigen, harten aber starken Stücks Film sehen alle mindestens einmal rot: die Mutter, welche von ihrem verhaltensgestörten Jungen zur Weissglut getrieben wird; Kevin, der in einem unvorstellbaren Gewaltrausch (nicht nur sein) Leben zerstört; die Bewohner der Stadt, welche Zeugen und Opfer der Gewalttat sind; und die Zuschauer, welche von dem atmosphärisch effektvollen Rotton des Films in den Bann gezogen werden.
Von Gabriel Roth.
In einem kleinen Vorort in der Nähe New Yorks lebt die Pillen schluckende und Wein trinkende Eva – sensationell gespielt von Tilda Swinton – und versucht verzweifelt, den Wiedereinstieg ins Alltagsleben zu finden. In Rückblenden wird klar, wie es dazu kommen konnte, dass Eva in der ganzen Stadt verhasst ist und tagtäglich verbale oder physische Gewalt in Kauf nehmen muss. Sie selbst versucht sich zu erinnern, was dazu geführt hat, dass ihr eigener Sohn in seiner Schule das Unaussprechliche verübte, und welche Rolle sie dabei gespielt hat. Während sie einst ein erfülltes Leben als Verfasserin erfolgreicher Reiseliteratur geniessen durfte, ist in der Gegenwart jeglicher Glanz von ihrer Existenz abgefallen und nur noch ein Häufchen Elend übrig geblieben.
Die unerträgliche Schwere des Seins
Den Anfang vom Ende markiert dabei sozusagen die Geburt ihres Sohnes: Kevin. Die Schwangerschaft und der Umzug in die Kleinstadt, der Kevin eine schönere Umgebung bieten sollte, entspricht so gar nicht ihrer Vorstellung. Ihr psychischer Zustand verschlechtert sich weiter drastisch, nachdem Kevin das Licht der Welt erblickt, denn sie leidet an einer schweren postnatalen Depression. Dementsprechend erfährt das Kind in seinen ersten Monaten von der Mutter herzlich wenig Liebe.
Dies ändert sich auch später nicht merklich, denn obwohl sich Eva immer wieder bemüht, einen Schritt auf Kevin zuzumachen, verweigert dieser ihr nun jeglichen Zugang zu seiner Gefühlswelt. Diese Spannung, welche zwischen den beiden herrscht, löst sich dabei nie in einem kathartischen Streit auf. Im Gegenteil: Die Sticheleien von Kevin verkommen immer mehr vom bösen Spiel zum bitteren Ernst und binden später auch Kevins jüngere, niedliche Schwester mit ein. Dabei stellt er seine Abneigung gegenüber der Mutter mit stolzgeschwellter Brust zur Schau – solange der Vater abwesend ist. So treibt Kevin als Aggressor die Spirale der verbalen und physischen Gewalt weiter, ohne dass es Eva gelingt, eine Lösung dieses kalten Konfliktes zu finden, bis Kevin im Jugendalter das Unwiderrufliche begeht – eine Gewalttat, welche nicht wieder gut zu machen ist.
Dieses Trauma holt Eva in scheinbar jeder Minute ihres Lebens immer wieder von Neuem ein. Wenig überrascht zeigt sie sich also, als sie ihr Haus und Auto eines Morgens über und über mit roter Farbe beschmiert vorfindet. Sinnbildlich erscheint ihr erfolgloser Versuch, die blutrote Farbe in Sisyphusarbeit zu entfernen, denn die Vergangenheit und das damit verbundene Blut lassen sich einfach nicht abwaschen.
Täuschend echt
Die Beziehung zwischen Eva und Kevin steht im Zentrum des Films und wird nie ganz verständlich. Die beiden sind Teile eines verqueren ödipalen Dreiecks, in welchem der Sohn in Rivalität zur Mutter die Anerkennung des Vaters zu erhaschen versucht, wobei Kevin stets als Auslöser aller Aggressionen erscheint. Dass Kevin allerdings schon von Beginn weg gleich derart konsequent die Mutter zurückgewiesen hat, darf bezweifelt werden. Schliesslich entsprechen die Bilder, welche Ramsay präsentiert, nicht der Realität, sondern der Erinnerung Evas – und Erinnerungen können trügerisch sein, speziell wenn eine derart extreme Tat an ihrem Ende steht und alles Vorherige teleologisch darauf hinzuweisen scheinen lässt.

Ohne viel Blut zu zeigen, schafft es der Film auf seine ganz eigene Weise, unglaublich brutal zu sein: anstelle der plumpen Zurschaustellung eines Blutvergiessens findet Ramsay immer wieder Wege, den Zuschauer zu zwingen, sich die Gewalt vorzustellen. Die Diskussion über einen Unfall, welchen Kevin wohl gezielt verursacht hat und den Verlust eines Auges seiner Schwester zur Folge hatte, wird nur dadurch zur Tortur für den Zuschauer, dass Kevin dazu in unnachahmlicher Genüsslichkeit eine weisse, glibberige Litschi isst. Der Effekt wird durch eine Nahaufnahme in Slow-Motion gar noch vervielfacht, was einen fast aus der Haut fahren lässt. Ebenso grässlich erscheint Kevin, als er beim Frühstückstisch die bunten Cornflakes mit dem Zeigefinger eines nach dem andern zu Staub zerdrückt. Mehr als diese Bilder braucht Ramsay nicht zu zeigen, denn die Vorstellungskraft der Zuschauer erledigt den Rest von ganz alleine.
„There is no point. That’s the point.“
„We need to talk about Kevin“ ist ein Film, der unter die Haut geht und sich im Kopf der Zuschauer einnistet, um zu bleiben. Der Film braucht zwar einige Minuten, um in die Gänge zu kommen, doch dank der stillen Spannung, gepaart mit den wuchtigen Bildern, welche den Film durchfluten, vermag er vollends zu überzeugen. Interessant erscheint die Wahl des Titels, da er suggeriert, dass im Film über Kevin gesprochen wird, was eben gerade nicht der Fall ist: Das so wichtige Gespräch findet nie statt, das Problem Kevin wird praktisch totgeschwiegen. Der Film ist aber derart stark und verstörend, dass der Titel umgedeutet zu sagen scheint: Wir Zuschauer müssen über Kevin sprechen, weil er und seine Tat – wie obiges Zitat verdeutlicht – nicht verstanden werden kann. So mysteriös wie der Film beginnt – mit einem im Dunkel wehenden Vorhang – so desillusioniert und verständnislos bleibt am Ende der Zuschauer zurück, nachdem ebendieser letzte Vorhang doch noch fällt und Kevins Tat komplett enthüllt wird.
Seit dem 1. März 2012 im Kino.
Originaltitel: We need to talk about Kevin (Grossbritannien 2011)
Regie: Lin Ramsay
Darsteller: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller
Genre: Drama
Dauer: 110 Minuten
CH-Verleih: Praesens Film AG
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