„Shame“ von Steve McQueen

The Sad World of Sex

„Shame“ von Steve McQueen

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Sexsucht hat es schwierig, als psychische Störung ernst genommen zu werden. Die Gesellschaft verkauft uns Lust und häufigen hemmungslosen Sex als Kernzutat für ein gesundes und glückliches Leben – wie kann zu viel davon also etwas Schlechtes sein? Der zweite Film des britischen Regisseurs Steve McQueen führt gerade diesen Fehlschluss vor Augen und zeigt, dass Sexsucht mit der Lust nach Sex etwa so viel zu tun hat wie Alkoholsucht mit Durst.

Von Lukas Hunziker.

Zeit-Journalistin Katja Nicodemus bezeichnete „Shame“ in ihrer Rezension treffend als „Unterseite von Sex and the City“. Tatsächlich ist Brandon, die Hauptfigur des Films, auf den ersten Blick jene Art Mann, in welchen sich Carrie, Samantha, Charlotte und Miranda auf den ersten Blick verlieben würden: Er ist attraktiv, smart, elegant gekleidet, ein erfolgreicher Geschäftsmann – und dazu noch ganz ordentlich bestückt. Ein Blick in den Alltag Brandons liesse aber selbst die oberflächlichsten New Yorkerinnen ihm angewidert den Rücken kehren. Brandons tägliche Routine besteht nämlich aus Masturbieren – vor, während und nach der Arbeit – stundenlangem Konsum von Internetpornos und Chat-Sex, sowie dem Empfangen von Prostituierten in seiner Wohnung. Zwischenmenschliche Beziehungen gibt es in seinem Leben keine; seine zwanghafte Hypersexualität grenzt Brandon aus der Welt, in der er lebt, aus.

Sex bar jeder Erotik

Brandons Alltag wird vorübergehend über den Haufen geworfen, als er unerwartet Besuch von seiner Schwester Sissy bekommt. Sie ist das genaue Gegenteil ihres beziehungsunfähigen Bruders; süchtig nach zwischenmenschlichem Kontakt stürzt sie sich von einer Beziehung in die nächste und hofft bei jedem One-Night-Stand, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben. Auch an Brandon, die einzige Familie, die sie noch hat, klammert sie sich mit aller Kraft, obwohl dieser sie kaum anders behandelt als die Edelnutten, die er zu sich nach Hause kommen lässt. Kein Wunder, dass die gemeinsamen Wochen das Leben der beiden und die ohnehin brüchige geschwisterliche Beziehung völlig aus dem Ruder laufen lässt.

Wer Steven McQueens ersten Spielfilm „Hunger“ gesehen hat, in welchem der IRA-Aktivist Bobby Sands sich im Gefängnis aus Protest zu Tode hungert, weiss, dass McQueen kein zimperlicher Regisseur ist. „Shame“ ist ein Film über Sexsucht, und daher verwundert es kaum, dass er in den USA ein „NC-17“ erhielt, was dem deutschen „Keine Jugendfreigabe“ entspricht. „Shame“ ist, das überrascht nicht, ein Film für Erwachsene, und zwar solche, die bei hartem Sex auf der Leinwand nicht rot werden. Trotzdem handelt es sich dabei um alles andere als einen Sexfilm mit Art House Label, denn der Sex eines Sexsüchtigen hat mit Genuss herzlich wenig zu tun. Trotz viel nackter Haut und hochstilisierten Aufnahmen ist „Shame“ beklemmend unerotisch, und lässt den Zuschauer Brandons Orgien ebenso wenig geniessen wie ihn.

© Studio / Produzent
© Studio / Produzent

Alles, was in „Shame“ nicht Sex ist, ist hingegen purer Genuss. Bereits die erste Einstellung zeigt, dass hier ein Künstler auf dem Regiestuhl sass, der wirklich etwas von Filmästhetik versteht. Jede Einstellung ist perfekt komponiert; Farben, Kamerafahrten, Bildausschnitt, Musik – alles ergänzt sich unbeirrt zu einem optischen Gesamtkunstwerk. Wie schon in „Hunger“ gibt es zahlreiche Einstellungen, die mehrere Minuten dauern. Sissy, die als Sängerin in New York unterwegs ist, singt „New York, New York“ in einem einzigen Take, Brandon andererseits joggt durch die nächtliche Stadt, ohne dass auch nur einmal geschnitten wird. Ebenfalls visuell grandios ins Szene gesetzt ist der Dreier, den Brandon in der zweiten Filmhälfte geniesst; dieser ist so gefilmt, dass man als Zuschauer das unangenehme Gefühl hat, ebenfalls involviert zu sein – so nahe dran ist die Kamera, so mittendrin zwischen schwitzenden, feuchten, warmen Körpern.

Feingefühl statt Provokation

Grandios agieren auch die beiden Hauptdarsteller. Deren Rollen sind äusserst komplex und setzen grossen Mut und grosses Vertrauen in den Regisseur voraus. Dem nackten Fassbender sehen wir beim Pinkeln zu, Carey Mulligan überraschen wir zusammen mit Brandon beim duschen. Dass sich die beiden für McQueen aufs Glatteis begeben haben, hat sich allerdings gelohnt: beide liefern eine grossartige Performance ab, so dass es erstaunt, wie wenige der letztjährigen Filmpreise auf beiden niederprasselten. Gewiss, „Shame“ ist harte Kost, unzimperliche Kost, anspruchsvolle Kost – aber niemals so explizit wie es Lars von Trier schon im Prolog zu „Antichrist“ war und in seinem eigenen Projekt zu Sexsucht, „The Nymphomaniac“, wahrscheinlich sein wird. McQueen behandelt das schwierige Thema mit viel Feingefühl, verzichtet auf provokative Close-ups, sondern zeigt den Sex eines sexsüchtigen in all seiner traurigen Genusslosigkeit.

Nach „We need to talk about Kevin“, dem bei den grossen Filmpreisen 2011 ebenfalls zu kurz gekommenen Meisterwerk von Lin Ramsay, ist „Shame“ wohl der eindrücklichste Film des bisherigen Filmjahres, und wird es vielleicht sogar bis zu dessen Ende bleiben. Ein kompromissloses Gesamtkunstwerk, mit optischem Fingerspitzengefühl inszeniert und mit zahlreichen Szenen, die Perfektion neu definieren, sollte man „Shame“ auf keinen Fall verpassen und sich nicht wundern, falls er Ende Jahr ganz oben auf unserer „Best of 2012“ Liste steht.


Ab dem 8. März 2012 im Kino.

Originaltitel: Shame (Grossbritannien 2011)
Regie: Steve McQueen
Darsteller: Michael Fassbender, Carey Mulligan, James Badge Dale, Nicole Beharie
Genre: Drama
Dauer: 99 Minuten
CH-Verleih: Frenetic

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Lukas Hunziker

Lukas Hunziker ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch. In seinem Garten stehen drei Bäume, in seinem Treppenhaus ein Katzenbaum. Er schreibt seit 2007 für nahaufnahmen.ch.

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