Simona Ryser: „Helenenplatz“

Drei Fussspuren bis zur Liebe

Simona Ryser: „Helenenplatz“ (Roman)

In ihrem Roman erzählt Simone Ryser die Geschichte von drei Menschen, die sich auf der Flucht vor der zwecklosen Arbeit und auf der Suche nach ein wenig Liebe befinden. Tage- und nächtelang streifen Hanna, Sabine und Georg durch die Strassen. Ihrer Einsamkeit versuchen sie mit dem Onlineportal paarnet.com ein Ende zu bereiten. Wir haben es mit einem eigenartig kunstvollen, kleinen Stück Literatur zu tun, dessen Bilder auch nach der letzten Seite noch im Kopf haften bleiben.

Von Louanne Burkhardt.

helenenplatzWie der Titel des Romans vermuten lässt, ist der Helenenplatz Dreh- und Angelpunkt der Geschichte rund um die drei Stadtmenschen Hanna, Sabine und Georg, die sich ihren Weg durch die Strassen, U-Bahnen und Büros des städtischen Schauplatzes bahnen.

Hanna ist eine Treuhänderin, deren dumpfe Trägheit und Lähmung sich wohl mit einem Burnout beschreiben lässt. Sabine, eine junge Sekretärin, versucht, Hannas Arbeit so gut es geht alleine zu bewältigen und übernimmt mehr und mehr die Verantwortung. Der „eine holde Maid suchende Ritter“ Georg (so beschreibt sich dieser selbst in einer Kontaktanzeige) ist ein Gamedesigner, der sich eine Auszeit genommen hat. Verzweifelt sucht er nach Inspirationen für weitere Games und flieht gleichzeitig vor den Zwängen der virtuellen Welt. Wie gehetzt irrt er durch die Stadt.

Allen dreien ist eine nagende Unzufriedenheit gemeinsam. Eine Rastlosigkeit, die aber nicht zu Tatendrang, sondern zu Orientierungslosigkeit und ziellosen Streifzügen führt.

Der Roman handelt aber nicht nur von der Überforderung und dem Gefühl der Sinnlosigkeit beim Verrichten der eigenen Arbeit und dem stundenlangen Starren auf den Computerbildschirm, sondern auch von der sehnsüchtigen Suche nach Zweisamkeit und Liebe.

Simona Ryser zeichnet in ihrer Geschichte die einsamen Spuren der Figuren durch die Topografie der Stadt nach, lässt sie wie Fussstapfen im Schnee mit anderen kreuzen und dann wieder verwischen und in der Anonymität untergehen.

Wenn sich die Sprache dem Rhythmus der irrenden Schritte angleicht

Ein eigentliches Geschehen gibt es nicht. Doch trotz des fehlenden Handlungsablaufs wird man beim Lesen von einem eigenartigen Sog erfasst, vor allem durch Rysers beschleunigende und wieder verlangsamende Sprache. Die Autorin aus Zürich, die für ihr früheres Werk „Maries Gespenster“ nicht umsonst zwei Literaturpreise erhalten hat, versteht es meisterhaft, den Rhythmus der Gefühle in die Worte und Sätze einwirken zu lassen. Steht Hanna stundenlang am Fenster ihres Büros, so spiegelt sich in der Beschreibung des aus der Vogelperspektive betrachteten Helenenplatzes dieselbe Bewegungslosigkeit, die auch Hanna befallen hat. Hetzt jedoch Georg, verfolgt von unsichtbaren Käfern, die seinen ganzen Körper zu befallen scheinen, planlos durch die Gegend, dann hört man in den elliptischen Sätzen den Gleichklang seiner Schritte und pochenden Gedanken.

Die grosse, ausfüllende und schmerzhafte Verzweiflung der Personen, die sich so sehr nach ein wenig unverfälschter Liebe sehnen, wird in „Helenenplatz“ ganz unpathetisch und subtil, teilweise gar verspielt musikalisch geschildert. Der Autorin gelingt es, den Leser selbst zu einem der durch die Nacht irrenden Georgs, Hannas oder Sabines werden zu lassen. Die Beschreibungen lassen nicht vergessen, dass Schmerz mit allen Sinnen spürbar ist: Wir werden daran erinnert, dass jedes Gefühl immer auch physisch wahrgenommen wird. So scheint es nur logisch, dass Hanna, als sie wieder einmal mitten in der Nacht – wie stets perfekt zurechtgemacht – alleine in ihrem Büro steht und die Absurdität des eigenen Lebens nur allzu deutlich vor Augen hat, zusammenbricht, auf den Teppich fällt und dort bis zu den Morgenstunden liegen bleibt ­– der Boden unter ihr nass von Tränen.

Eine Geschichte des Verpassens

Während des ganzen Romans wird der Leser Zeuge davon, wie sich die drei Figuren immer wieder verpassen, obwohl sich ihre Wege so oft berühren. Beispielsweise dann, wenn sie Tag für Tag an derselben Imbissbude ihren morgendlichen Kaffee und Schokoriegel kaufen. Der Grund, weshalb die drei am Ende doch noch zusammenfinden und es gar zu einer Art angedeuteten Dreiecksgeschichte kommt, ist das Internet. Sabine, selbst einsamer Single, durchstöbert regelmässig Partnerbörsen nach möglichen Dates für Hanna und schickt dann irgendwann selbst per Video einen Hilferuf in die Welt hinaus.

Alles über paarnet.com Arrangierte scheint aber am Ende des Romans (glücklicherweise) nicht zu funktionieren. Die Zufälligkeit ist es, die letztendlich zu einigen kostbaren Glücksmomenten führt, nach denen die drei Figuren so sehr lechzen. So richtig wissen wir es nicht, der Roman lebt von Andeutungen und Offenem.

Dass auch auf den Ausgang der Geschichte nur fein verwiesen wird, mag zwar zuerst befremden, gehört aber zu einer weiteren Stärke der Komposition. Einprägsam ist jene Szene, in der Hanna voller Erstaunen ein kleines Fleckchen Erde auf dem ihr scheinbar allzu bekannten Helenenplatz entdeckt.

Der Brand des Treuhandbüros ganz zum Schluss ist vielleicht doch ein wenig zu viel des Guten. Am Ende trifft der Ritter Georg jedenfalls dann die holde Maid Sabine tatsächlich am Stadtrand. Mit einem Kuss auf die Wange verabschieden sich die beiden aus der Geschichte. Hanna bleibt alleine und klaut weiterhin Kosmetika aus Warenhäusern. Und auch die Arbeit bleibt.

Ebenfalls von Dauer sind die Bilder, die mal sehr detailgetreu, mal äusserst temporeich im Kopf des Lesers entstanden sind. Man zieht anders durch die Strassen der eigenen städtischen Kulisse, nachdem man den Buchdeckel zugeklappt hat. „Helenenplatz“ ist ein Buch, das unsere moderne Gesellschaft sehr treffend analysiert und mit poetischer Verspieltheit in Sprache umformt. Zu empfehlen für all jene, die Lust auf eine Leseerfahrung einer etwas anderen Art haben.


Titel: Helenenplatz
Autorin: Simona Ryser
Verlag: Limmat Zürich
Seiten: 142
Richtpreis: 32.00 Fr.

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