Florian Coulmas, Judith Stalpers: „Fukushima“
Wertvoller Überblick
Florian Coulmas, Judith Stalpers: „Fukushima. Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe“ (Sachbuch)
Am 11. März 2011 nahmen in Japan mit einem gewaltigen Erdbeben eine Reihe von verhängnisvollen Geschehnissen ihren Anfang, an deren Ende die Angst vor einer atomaren Verseuchung ganz Japans stand. – Motiviert durch die persönliche Betroffenheit zeichnen die Japanspezialisten Florian Coulmas und Judith Stalpers die Ereignisse nach, analysieren die Hintergründe und geben wie nebenbei einen Einblick in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Japans.
Von Sandra Despont.
Erdbeben stehen in Japan auf der Tagesordnung. Täglich gibt es davon durchschnittlich 400, drei davon fühlbar. Kein Wunder bewegt die japanischen Schüler beim Erzittern der Erde keine Panik, sondern zuerst einmal die Hoffnung auf ein wenig schulfrei. Kein Wunder haben die Erdbeben in der japanischen Sagenwelt einen festen Platz in Form des riesigen Wels Namazu, dessen Bewegungen die Menschen fühlen, wenn er in den unterirdischen Höhlungen der Erde schwimmt. Doch die technikaffinen Japaner vertrauen nicht darauf, dass Namazu seine Schwimmbewegungen minimiert, sondern haben ein ausgeklügeltes Frühwarnsystem entwickelt, effiziente Notmassnahmen und durchgeplante Hilfeleistungen, die bei schwereren Erdbeben von jetzt auf gleich anlaufen können. Dass Erdbeben und Tsunami trotz noch so ausgefeilter Technik letztlich unberechenbar und gefährlich bleiben, hat der 11. März 2011 eindrücklich gezeigt.
Fukushima und Tschernobyl, Tepco und die Politik
Die Autoren von „Fukushima“ haben selbst miterlebt, wie am 11. März das aussergewöhnlich starke Erdbeben und dann vor allem die mächtige Tsunamiwelle zum Versagen aller Sicherungsmechanismen in den Atomreaktoren von Fukushima Daiichi geführt haben und so den Gipfelpunkt der modernen Technik, die Kernkrafttechnologie, alt aussehen liessen. Sie haben, als ihnen klar war, dass dieses Erdbeben nicht unter „ferner liefen“ abgebucht werden konnte, ebenso verunsichert ihre Familienmitglieder zu erreichen versucht wie die Japaner, sie haben ebenso gestaunt über das Erbeben scheinbar sicherer Gebäude, den Stromausfall im Land mit den wenigstens Stromausfallminuten pro Kunde weltweit. Aus dieser persönlichen Betroffenheit heraus schrieben sie ihr Buch über Fukushima und dieser persönlichen Betroffenheit und dem hautnahen Miterleben ist es vielleicht zu verdanken, dass aus ihrem Bericht kein politisches Manifest für oder wider die Atomkraft, keine Anklage von Tepco und Wissenschaftsgläubigkeit, kein tendenziöses Weltverbesserungswerk geworden ist. Deskriptiv, sachlich, dabei ohne die Tragik einzelner aus dem Blick zu verlieren, durchaus kritisch, aber ohne polemische Schuldzuweisungen bietet „Fukushima. Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe“ auf wenigen Seiten mehr als man von so einem schmalen Büchlein erhoffen möchte.
Dazu gehört auch eine immense Themenbreite, die Coulmas und Stalpers abdecken. Kurz und präszis werden so unterschiedliche Fragen angesprochen wie: Ist Fukushima mit Tschernobyl vergleichbar? Wie eng sind Tepco und die Politik verflochten? Warum ist gerade in Japan die AKW-Euphorie so gross? – Wie nebenbei sprechen die beiden Japanexperten politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen an, so dass man einen Einblick in das uns so fern erscheinendes Japan erhält.
Wie Erdbeben Städte töten
Trotz zahlreichen Publikationen seit dem Unglück in Fukushima und dem Publikationsboom um den Jahrestag der Katastrophe herum bietet sich das in der beck’schen Reihe erschienene „Fukushima“ nach wie vor als handliches Übersichtswerk ohne ideologische Prägung und politisches Programm an. Ganz von Mitgefühl und dem Wunsch nach sachlicher Information getragen, schildern Coulmas und Stalpers nüchtern und präzise, tragen die wichtigsten bis anhin bekannten Daten und Fakten zusammen, ohne dabei je schulmeisterhaft zu wirken oder an Lesbarkeit einzubüssen. Die allgemeinen Schilderungen ergänzen sich gut mit persönlichen Erfahrungsberichten, etwa von einer Reise nach Kesennuma, genannt der „Ort, wo nichts mehr ist“, einem Ort, den die Zerstörung durch Erdbeben und Tsunami maximal getroffen hat und der die abstrakten Daten und nackten Zahlen greifbarer macht. Anhand der schwierigen Lage der Stadt, oder eher: ihrer Überreste, zeigen Coulmas und Stalpers auf, was einem Ort nach einer Naturkatastrophe droht: Ausgelöst durch das Erdbeben kommt es oft zu verheerenden Bränden, manchmal folgt ein Tsunami, selten auch ein so grosser wie derjenige vom 11. März. Tote, Verletzte, Vermisste, zerstörte Häuser und Infrastruktur sind die unmittelbaren Folgen. Dazu kommen Erdabsenkungen und Versalzungen, die fruchtbares Land in Wüsten verwandeln können. Die weiteren Folgen, die sich oft erst zeigen, wenn die globale Medienöffentlichkeit sich längst anderen Themen zugewandt haben, sind Verödung, Arbeitslosigkeit, Wegzug. Nur die Alten bleiben.
Kühlen, kühlen, kühlen
Auch wenn es um technische Zusammenhänge geht, legen die Autoren grossen Wert auf Anschaulichkeit. So schaffen sie so einprägsame wie einleuchtende Bilder, die auch von einem Laien sofort nachvollzogen werden können, wie etwa den Vergleich eines AKWs mit einem Wasserkocher. Trotz ihrem grossen Bemühen um Einfachheit erliegen die Autoren jedoch nie der Gefahr der Vereinfachung oder gar der Banalisierung. Wo ein Vergleich nicht mehr trägt, verlassen sie ihn, wo nur Fachbegriffe präzise sein können, verwenden sie diese. Eindrücklich gelingt es so, auf beschränktem Raum einen gewissen Einblick in die Technik der Kernkraft zu geben und gleichzeitig die Probleme nach dem Tsunami verständlich zu machen. Auch die Verzweiflung, mit der nach Möglichkeiten gesucht wurde, die Brennelemente zu kühlen, wird greifbar. Nichts blieb in diesen Tagen der Ungewissheit unversucht: Die japanische Armee goss aus Hubschraubern Wasser über die Reaktoren, Feuerwehrpumpen, ja sogar Betoneinspritzpumpen kamen zum Einsatz. Kühlen hiess das Motto – egal wie.
Ebenso sachlich informieren Coulmas und Stalpers über Radioaktivität, Strahlenbelastung und mögliche Schutzmassnahmen. Sie schaffen so verlässliche, weder Panikattacken fördernde noch alles ins banale Nichts erklärende Grundinformationen zu einem aktuellen Thema, das allzuoft von dahinterstehenden politischen und/oder wirtschaftlichen Interessen geprägt scheint.
Barriere gegen die Barbarei
Natürlich würdigen Coulmas und Stalpers auch die grossartige Bevölkerung Japans, die mit Ruhe, Solidarität, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft auf Erdbeben und Tsunami reagiert hat. Was man von anderen Naturkatastrophen her kannte, dass nämlich in ihrem Gefolge ein allgemeiner Sittenzerfall eintrat, es zu Mord, Raub, Vergewaltigungen kam, wie etwa nach dem Hurrikan Katrina 2005, war in Japan unvorstellbar. In der Ruhe und der Ordnung, die in Japan vorherrschte, wurde die unglaubliche Stärke der japanischen Gesellschaft greifbar. Für uns mag diese oft restriktiv wirken, doch gerade in Krisenzeiten zeigt sich, dass die gute Form und das Zurückstellen des Individuums zugunsten des Allgemeinwohls eine effektive Barriere gegen die Barbarei sein können. Dass aber auch diese Gesellschaft nicht einfach alles mit sich machen lässt und Autoritäten trotz grossem Respekt keineswegs unwidersprochen stehen lässt, zeigt die differenzierte, kritische Reaktion der Japaner auf die atomare, und damit vermeidbare Katastrophe.
Lavieren statt helfen
Einen starken Kontrast zu der bewundernswerten japanischen Bevölkerung sehen die Autoren im Versagen der japanischen Politik, die nicht einmal im Moment der grössten Not von ihrer Klientelpolitik abgewichen ist und aus der Notlage der Bevölkerung hemmungslos politisches Kapital zu schlagen versucht hat, indem sie etwa den Wiederaufbau behinderte und Premierminister Kan davon abhielt, schnell und effizient zu handeln. Mit ihrer Kritik am deutlichsten werden Coulmas und Stalpers, wenn sie über die Verflechtungen von Wirtschaft, Politik und Verwaltung in Japan sprechen, aber auch bei einem Blick auf das Verhalten der Nicht-Japaner. Nicht nur dass der Massenexodus, das Schliessen von Botschaften und die negativen Reiseempfehlungen der Wirtschaft des Hightech-, Export- und Tourismuslandes Japan extrem geschadet haben. Als viel empörender und ungerechter empfanden die Autoren, und mit ihnen bestimmt viele Japaner, die besserwisserische, teils moralisierende, teils geringschätzige Medienberichterstattung, die sich vor allem auf die eigene nervöse Reaktion angesichts einer atomaren Katastrophe konzentrierte, während die Opfer von Erdbeben und Tsunami rasch aus der breiten Medienöffentichkeit und damit aus dem Blickfeld der Welt verschwanden.
„Fukushima. Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe“ ist ideal für alle Leser, die sich in nützlicher Frist einen sachlichen Überblick über Erdbeben, Tsunami und atomare Katastrophe in Japan informieren möchten. Die Mischung zwischen persönlichen, beispielhaften Berichten und klarer, anschaulicher und neutraler Information machen das Werk von Coulmas und Stalpers besonders lesenswert und wertvoll.
Titel: Fukushima. Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe
Autoren: Florian Coulmas, Judith Stalpers
Verlag: beck’sche Reihe
Seiten: 191
Richtpreis: CHF 18.90